Die Anpassung an neuartige Bedrohungen und Einsatzerfordernisse erfordert ein Umdenken im Effektorbereich. Seit einigen Jahren ist ein Trend zu loiterfähigen Munitionen erkennbar. Auch als „Loitering Munitions“ bezeichnet, ergänzen sie das Wirkmittelspektrum moderner Streitkräfte und bestimmen das Bild künftiger vernetzter Operationen. Sie profitieren von der fortschreitenden Miniaturisierung im Bereich von Effektoren und Sensoren. Loiterfähige Munitionen gelten als allwetterfähige Waffensysteme, die in der Lage sind, hochbewegliche und schwer durch herkömmliche Sensoren zu entdeckende Bodenziele präziser zu bekämpfen als herkömmliche Wirksysteme. Loiterfähige Waffensysteme können dort eingesetzt werden, wo ein in komplexem Terrain operierender Gegner sich durch geeignete Täuschverfahren der Entdeckung, Identifizierung und Bekämpfung zu entziehen versucht. Loiterfähig bedeutet hierbei, dass das Waffensystem nach dem Verschuss und Erreichen des Zielgebiets über einen längeren Zeitraum über dem Zielgebiet manövriert, um potenzielle oder hochpriorisierte Ziele aufzuklären und für den Bekämpfungsvorgang auszuwählen.
Industriekooperation eröffnet neue Optionen
Der Konzern Rheinmetall gab im Januar bekannt, dass man mit dem israelischen Unternehmen UVision Air Ltd. eine strategische Partnerschaft im stark wachsenden Marktsegment der Loitering Munition vereinbart hat. Das Partnerschaftsabkommen sieht in einer ersten Phase die Vermarktung der Loitering Munitionsfamilie Hero in Europa vor. In einem zweiten Schritt sind dann gemeinsame Entwicklungsaktivitäten vorgesehen. Hierbei ist von Bedeutung, dass sich Rheinmetall und UVision mit ihren Kompetenzen und Möglichkeiten komplementär ergänzen. Rheinmetall bekräftigt, dass es damit seine umfangreiche Produktpalette der militärischen Kampf- und Übungsmunition im Kaliberspektrum von 20mm bis 155mm um einen neuen, hochmodernen Munitionstyp komplettiert. Bei einem Pressegespräch in Bad Godesberg Mitte Januar stellten beide Industriepartner heraus, dass sie auf dem Gebiet der ferngesteuerten Präzisionsmunition eine führende Marktposition in Europa anstreben und eine gemeinsame Entwicklung neuer Produkte anstoßen wollen. Der Einstieg in diesen kritischen Technologiebereich stellt für Rheinmetall einen wichtigen strategischen Schritt dar, mit dem sich das Unternehmen konsequent am wachsenden militärischen Bedarf orientieren will, so eine Verlautbarung vom 12. Januar.
Mit UVision steht ein erfahrener Partner bereit, um mit anspruchsvollen Produkten eine militärische Fähigkeitslücke zu schließen, die bei vielen europäischen Nato-Partnern identifiziert wurde. Beide Unternehmen betrachten die Gründung eines Joint Ventures als ein Instrument zum Ausbau der gemeinsamen Entwicklung und Produktion von bedarfsgerechten Loitering Munitionen. Rheinmetall erklärte, dass als Produktionsstandort das Tochterunternehmen RWM Italia S.p.A. in Betracht gezogen werden soll. Das Unternehmen gehört zur Rheinmetall-Division Weapon and Ammunition und agiert seit 2010 als eine Tochtergesellschaft innerhalb des Rheinmetall-Konzerns. Der Konzern Rheinmetall verfügt zudem über die Möglichkeit, die erforderliche Qualifizierung neuer Loitering Munition-Produkte gemäß gängiger Nato-Standards durchzuführen. Damit können diese für die Streitkräfte der verschiedenen Länder in Europa nutzbar gemacht werden.
Kampferprobt und intelligent
Die Hero-Munitionsfamilie verbindet die Fähigkeit der Zielaufklärung, Bekämpfung und des Missionsabbruchs. Sie bildet eine Kategorie von Waffensystemen, die es dem Nutzer ermöglicht, Präzisionsschläge gegen gegnerische Kräfte durchzuführen, ohne dass sich die eigenen Kräfte nahe am Gegner exponieren müssen. In komplexen und dynamischen Umgebungen umfasst das Zielspektrum insbesondere solche Zielkategorien, die sich nur für kurze Zeit exponieren (etwa ungeschützte oder leicht gepanzerte Kräfte) oder die sich durch Tarnmaßnahmen der Aufklärung zu entziehen versuchen (z. B. Gefechtsstände). Die Wirkungsweise von modernen Loitering Munitionen zeigte sich in dem zwischenstaatlichen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan (Konflikt in Bergkarabach), wo sie als Wirkmittel zur eindringfähigen Zielaufklärung und unmittelbaren Bekämpfung gegen nicht gepanzerte und gepanzerte Kräfte eingesetzt wurden.
Die langanhaltende Loiterfähigkeit (d. h. lange Verweildauer über dem Zielgebiet) erlaubt kurze Reaktionszeiten und eine flexible Wahl des optimalen Zeitpunkts zur Bekämpfung von besonders zeitkritischen Zielen (Time Critical Targets; TCT) am Boden. Die Loitering Munition ist in der Lage, Distanzen jenseits der Sichtlinie (über 150 km) zu überbrücken und dann bis zu 60 Minuten über dem Zielgebiet nach beweglichen und stationären Zielen zu suchen. Hierfür nutzt die Loitering Munition hochauflösende elektro-optische Sensoren und Infrarotkameras, die es dem Bediener ermöglichen, zeitkritische Ziele mit niedriger Signatur zu entdecken, zu überwachen und schließlich zu bekämpfen. Mit den Fähigkeiten zur Aufklärung und Wirkung im Verbund erfüllt sie damit die militärischen Anforderungen aus heutigen asymmetrischen und symmetrischen Einsatzszenarien. Gleichwohl wird durch „Human-in-the-Loop“ sichergestellt, dass Kollateralschäden am Boden weitestgehend vermieden werden kann. Daher ist der Einsatz aller Mitglieder der Hero-Familie immer mit der Möglichkeit des Missionsabbruchs verknüpft. Wird der Bekämpfungsvorgang abgebrochen, kann die Loitering Munition zurückgerufen und auf ein anderes Ziel gelenkt werden. Der Bekämpfungsvorgang erfolgt also nicht automatisiert: Die Freigabe liegt nicht im Waffensystem, sondern beim Bediener.
Im Themenumfeld „Loitering Munitionen“ gilt die von dem israelischen Unternehmen UVision Air Ltd. entwickelte und bereits bei den Streitkräften eingeführte Hero-Munitionsfamilie technologisch wie einsatztaktisch als richtungsweisend. Für die sich durch ein hohes Kosten-Nutzen-Verhältnis auszeichnende Waffensystemfamilie zeichnen sich für die kommenden Jahre vielseitige Nutzungsaspekte und neue Bedarfstendenzen ab. Neben dem Einsatz für den Selbstschutz (etwa bei seegehenden Einheiten) oder bei der Interzeption von asymmetrischen Bedrohungen im urbanen Raum (z. B. ungeschützte Fahrzeuge wie Pick-ups, Insurgenten oder logistische Einrichtungen von terroristischen Gruppierungen) gelten loiterfähige Waffensysteme als Teil künftiger Waffenverbünde, die als „Option der ersten Minute“ auf einem hochgradig letalen Gefechtsfeld eingesetzt werden können. Leichte Modelle sind tragbar (man portable) und speziell dafür konzipiert, als hocheffektive Präzisionsmunition durch infanteristische Kräfte mitgeführt zu werden. Für die Adaption an bemannte/unbemannte Gefechtsfahrzeugen wurden Werfersysteme zur Aufnahme der ferngesteuerten Präzisionsmunitionen entwickelt. So ist der von Rheinmetall entwickelte und weltweit vermarktete Schützenpanzer Lynx bereits dafür ausgelegt, ein solches Werfersystem in den Turm zu integrieren. Mehrere europäische Staaten prüfen derzeit die Einführung der neuen ferngesteuerten Präzisionsmunition.
Stefan Nitschke