Hausgemachte Ohnmacht

22/02/2022

Staunend fragten in den vergangenen Wochen viele, als sie die Bilder von den unendlichen Kolonnen russischer Truppen sahen, die durch die für den Südwesten Russlands typischen Landschaften zogen: „Hat das niemand bedacht, was geschehen muss, wenn Putin zuschlägt?“ Dabei gilt es immer gegenwärtig zu haben: Russlands Präsident Wladimir Putin glaubt, dass er mit militärischen Mitteln einer Nato-Einbindung der Ukraine Einhalt gebieten kann. Nur eines ist sicher: Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist in den kommenden Jahren gar nicht zu erwarten. Als Sprecherin von US-Präsident Jo Biden führte Vizepräsidentin Kamala Harris bei ihrer Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende an, dass von den europäischen Nato-Partnern mehr Initiative abverlangt werden müsse, um Moskau gegenüber Einigkeit und Entschlossenheit zu zeigen. Das bedeute, so die Vizepräsidentin, eine verstärkte militärische Unterstützung der östlichen Nato-Partner und eine Sensibilität gegenüber Moskaus Ambitionen in der Region. Mit der Anerkennung der beiden selbsternannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk könnte Putin dazu gedrängt werden, militärischen Beistand für jene zu leisten, die dort seit Jahren für Gewalt und Abspaltung stehen. Die zunehmenden hybriden Bedrohungen, die Teil eines „genauen Drehbuchs“ für die russische Aggression darstellen und im Ergebnis den Vorwand für eine Invasion schaffen sollen, dürfen nicht falsch verstanden werden.

Der Westen insgesamt scheint uneins, wie er mit Russland umgehen soll, wenn es dazu kommen sollte. Zu viel hängt davon ab, wie die Energieversorgung einiger wichtiger EU-Mitgliedsstaaten trotz angedrohter Sanktionen gegenüber dem Kreml sicher gemacht werden kann. Die starke Abhängigkeit Deutschlands von russischem Erdgas führt, anders als wie etwa bei Frankreich, das kaum von russischen Gaslieferungen abhängig ist, zur Besorgnis nicht nur auf Seiten der Politik. Es fällt auf, dass es Deutschland, dem wirtschaftlich stärksten und bevölkerungsmäßig größten Mitgliedsstaat der EU, nicht nur schwerfällt, sich im Konzert mit den anderen europäischen Partnern gegenüber Moskau zu platzieren, sondern auch die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, die eine Abhängigkeit von Russland begrenzen. Die Russland-Ukraine-Krise demonstriert ad oculos, wie sich fehlerhafte oder verschleppte Entscheidungen auswirken können.

Überall im Kreml behaupten sich die alten Symbole: Der Niedergang der Sowjetunion vor mehr als drei Jahrzehnten wiegt schwer. Die Rückkehr des heutigen Russlands auf die Weltbühne ist die einzig denkbare Option. Putin glaubt, dass er dies nur mit militärischer Gewalt gegenüber der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, die sich inzwischen zu Demokratien entwickelten, erreichen kann. Den autokratisch geführten Staaten an der „weichen Südflanke“ in Zentralasien schenkt Moskau daher viel Aufmerksamkeit – nichts, was die dortigen autoritären Präsidialregime stören könnte, bleibt dem Kreml verborgen. Dagegen schlug die wirtschaftliche Weiterentwicklung seines Landes fehl: Es gab kaum Investitionen in die zivile Infrastruktur, in die Modernisierung der Grundstoffindustrie, in die Unterstützung der autonomen Regionen besonders im Fernen Osten. Russland ist insofern nur militärisch als Großmacht aufzufassen. Auf wirtschaftlicher Ebene, aber auch in vielen Bereichen der zivilen Forschung und Entwicklung, fehlt es Russland an Ausdauer, Kraft und Ideen. Am Wirtschaftswunder der Volksrepublik China würde Putin zu gerne teilhaben.

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz warne die US-Vizepräsidentin Kamala Harris vor einer weiteren Eskalation der Russland-Ukraine-Krise. (Foto: Mönch Archiv)

Sturm am Südflügel?

Mit dem Empfinden, Demokratien wie jene in der Ukraine oder in den Baltischen Staaten zu verhindern, hält Putin an der Wahl der militärischen Drohgebärden fest. Der Westen steht dem weiterhin ohnmächtig gegenüber. Die Androhung von wirtschaftlichen Sanktionen, die Russland wirtschaftlich und technologisch um viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückfallen lassen, vermag Putin in seinem Handeln kaum zu verunsichern. Mehr braucht er nicht befürchten. Denn die Ukraine, sollte sie, wie der amerikanische Präsident Jo Biden in den vergangenen Wochen immer wiederholt sagte, in den kommenden Tagen, Wochen oder Monaten angegriffen werden, ist kein Mitglied der Nato – und wird es auf absehbare Zeit auch nicht sein.

Diese Beispiele zeigen deutlich, was in den kommenden Wochen zu erwarten ist. Hier wiegt auch die Tatsache schwer, dass bereits auf dem Territorium der Ukraine – im Donbas – von Beginn an subversive Aktivitäten zu beobachten waren, um damit eines Tages eine russische Offensive zu provozieren. Im „Fronthinterland“ im Osten des Landes war besonders ab Mitte Februar eine Eskalation der Gewalt zu spüren, vor allem im unerbittlichen Beschuss von ziviler Infrastruktur durch pro-russische Milizen, die ihre Opfer auf Seiten der ukrainischen Bevölkerung forderten. Aber auch der Tatbestand, dass man Hundertausende Pässe an die Bevölkerung in den Separatistengebieten aushändigte und viele davon aufforderte, die Ukraine – aus Sicherheitsgründen – zu verlassen, um in den benachbarten russischen Oblasten Obdach zu finden, muss besonders für diejenigen besorgniserregend sein, die noch immer an einen Dialog auf Augenhöhe mit Moskau glauben. Die Lage scheint sich aber zu verschlechtern. Putin könnte, wenn die Anerkennung der beiden Volksrepubliken nicht ausreichen sollte, nicht nur einen „begrenzten“ Einmarsch in den Donbas anordnen, sondern auch versuchen, eine „erweiterte“ Landverbindung ostwärts der Nogaischen Steppe – entlang des Asowschen Meeres – bis zur Mündungsbucht des Don zu schaffen. So stellt die Konzentration von russischen Truppen entlang der Ost- und Südostgrenze auch weiterhin eine große Gefahr für den Frieden in Europa dar.

Autor: Stefan Nitschke

Stefan Nitschke

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