2022: Das Jahr der Entscheidungen – Die Modernisierung der Luftwaffe

17/03/2022

Die Ablösung der deutschen ECR Tornados steht ganz oben auf der Agenda der Deutschen Luftwaffe. Im Zuge der vor wenigen Tagen erfolgten Auswahl des Kampfflugzeuges F-35 als Ersatz für einen Teil der Tornado-Flotte wurde auch über die – mittelfristige – Ablösung der ECR-Tornados entschieden. Für die Luftwaffe werden 15 Eurofighter beschafft, die die Rolle „Elektronische Kampfführung“ übernehmen werden. Die Bedeutung dieser Beschaffungsentscheidung kann – vor dem Hintergrund von sich weiter verändernden Bedrohungen durch moderne bodengebundene Luftverteidigungssysteme – nicht hoch genug eingestuft werden.

Denn radargesteuerte Luftverteidigungssysteme stellen nach wie vor eine große Bedrohung für die fliegenden Waffensysteme der Luftstreitkräfte dar. Deren Bekämpfung erfolgt entweder durch elektronische Gegenmaßnahmen (Electronic Countermeasures; ECM), wobei luftgestützte Plattformen (Flugzeuge, Drohnen) ein breites Spektrum der Frequenzbänder der gegnerischen Überwachungs-, Zielerfassungs- und Zielverfolgungsradarsysteme mit sehr hohen Ausgangsleistungen auf große Entfernungen stören, oder mittels spezialisierter Luft/Boden-Lenkflugkörper (Hard-Kill). Letztere umfassen bei der Nato den seit Jahrzehnten eingesetzten Anti-Radar-Lenkflugkörper AGM-88 HARM (High Speed Anti-Radiation Missile) und aktuell AGM-88E AARGM (Advanced Anti-Radiation Guided Missile) als Weiterentwicklung. In modernen Luftkriegstheorien ist das Erringen von Luftüberlegenheit eine der Grundvoraussetzungen für erfolgreiches operatives Handeln in einer militärischen Gesamtauseinandersetzung. Die Niederhaltung der gegnerischen Luftverteidigung mittels geeigneter SEAD-Kräfte steht hierbei im Prinzip immer am Anfang von offensiven Luftoperationen, wodurch eine weitgehende Degradierung der gegnerischen Fähigkeiten zur Erstellung der Luftlage und zur Führung von Luftverteidigung erzielt werden kann. Das Kürzel SEAD steht für Suppression of Enemy Air Defences und beinhaltet die physische Bekämpfung von Luftverteidigungssystemen des Gegners durch Hard-Kill-Systeme, die selbstständig die Quelle einer Radarabstrahlung anfliegen. Sie bleibt spezialisierten Plattformen der Nato-Luftstreitkräfte vorbehalten. Bislang verfügen nur Deutschland, Italien und die USA über hierfür spezialisierte Kampfflugzeuge.

Die physische Bekämpfung von Systemen der bodengebundenen Luftverteidigung des Gegners wird durch neuartige Radartechniken und Gegenmaßnahmen beeinflusst. (Foto: Northrop Grumman Innovation Systems)

Moderne bodengebundene Luftverteidigungssysteme sind in der Regel verflochten mit stark automatisierten und breitflächig vernetzten Fernmelde- und Führungssystemen. Die fortschreitende Digitalisierung, aber auch der Trend zu Modularisierung und offener Architektur führen dazu, dass bodengebundene Luftverteidigungssysteme sich zu vollständig integrierten Architekturen – so genannte Integrated Air Defence Systems (IADS) – weiterentwickeln. Die breitflächige Vernetzung von unterschiedlichen Komponenten der Luftverteidigung führt so zu einer zunehmenden Bedrohung für die Luftstreitkräfte. Deren Niederhaltung (Suppression of Enemy Air Defences; SEAD) umfasst deshalb auch die Bekämpfung der gegnerischen Führungssysteme und -mittel (Counter Command, Control & Communications; CC3) und einen gewissen Beitrag durch elektronische Unterstützungsmaßnahmen (Electronic Support Measures; ESM) als Mittel zur Stärkung der Einsatzarten der offensiven Luftkriegsführung. Das Joint Air Power Competence Centre (JAPCC) in Kalkar (Niederrhein) warnt vor einer weiter voranschreitenden Robustheit moderner IADS. Nur solche Systeme sind in der Lage, als Standalone-Systeme oder eingebunden als Komponenten einer vernetzten Luftverteidigungsarchitektur zu agieren. Das Luftlagebild wird in diesem Fall durch verschiedene und weiträumig verteilte Sensoren bereitgestellt. “Systeme dieser Art können sogar mit luftgestützten Plattformen im Sinne eines zentralisierten C2 (Command & Control) zusammengebunden werden, was deren Bekämpfung erschwert”, sagt das JAPCC. Der jetzt in der Nato beschaffte Anti-Radar-Lenkflugkörper AARGM ist dank seiner verbesserten Fähigkeiten in der Lage, diese Unsicherheiten zu überwinden.

Spätestens der Golf-Krieg zu Beginn des Jahres 1991 hatte gezeigt, wie die Nutzung von Mitteln der elektronischen Täuschung und Störung sowie umfangreicher Waffeneinsatz dazu führen kann, den Gegner in seinen Fähigkeiten zur aktiven Luftverteidigung zu lähmen, obwohl der Großteil seiner zivilen und militärischen Ressourcen physisch noch intakt war. Die Weiterentwicklung der Breitbandempfänger-Technologie in den nachfolgenden Jahren führte dazu, dass mit neuartiger passiver Radarsuchkopftechnologie ausgerüstete Lenkflugkörper über größere Entfernungen mit hinreichender Präzision eingesetzt werden konnten (Kosovo-Konflikt), wobei der passive Radarsensor eines solchen Waffensystems in der Lage ist, aus vielen Radarsignalen ein Nutzsignal herauszufiltern.

Die Deutsche Luftwaffe hat das Waffensystem AARGM als Lösung für die Modernisierung ihrer HARM-Lenkflugkörper ausgewählt. (Foto: Stefan Nitschke)

Die ersten Erkenntnisse aus dem Ukrainekrieg zeigen aber, dass die Weiterentwicklung von Waffensystemen zur physischen Bekämpfung der bodengebundenen Luftverteidigung immer mit Gegenmaßnahmen des Gegners einhergeht. Bereits zu Beginn der russischen Luftoperationen über der Ukraine (zwischen dem 24. und 26. Februar) wurde offensichtlich, dass Teile der ukrainischen Luftverteidigung, die schon vor der Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 – zu einer vernetzten (integrierten) Luftverteidigung ausgebaut wurden und über verschiedene Technologien des Tarnens, Täuschens, Störens und Verfälschens verfügten, aus der Luft zunächst nur sehr schwer zu unterdrücken waren. Obgleich die ukrainischen Streitkräfte über Radarsysteme und Abwehrlenkflugkörper aus russischer (und sowjetischer) Entwicklung verfügten und russischen Piloten der Umgang mit diesen Komponenten vertraut war, führten Gegenmaßnahmen dazu, dass die physische Bekämpfung der radargesteuerten Luftverteidigungsmittel nur mit zeitlichen Verzögerungen erfolgen konnte. Kurzzeitig abgeschaltete und im Stand-by-Modus arbeitende Radarsysteme der Luftverteidigung sowie davon räumlich getrennte Führungssysteme und -mittel blieben offensichtlich – für einen eingrenzbaren Zeitraum von etwa zwei bis drei Stunden am Beginn der russischen Luftoperationen – intakt. Das traf jedoch nicht auf die Gesamtheit der ukrainischen Luftverteidigung zu. Nur etwa 30-35% der Komponenten galten als modernisiert und an moderne Luftbedrohungen angepasst.

Obgleich setzten die russischen Luftstreitkräfte in der Ukraine Anti-Radar-Lenkflugkörper ein, mit denen auch solche Überwachungs- und Zielbeleuchtungsradare identifiziert und bekämpft werden konnten, die infolge der Luftbedrohung abgeschaltet waren und sich eigentlich nur durch sehr minimale systembedingte Abstrahlungen verrieten. Dies führt zu der Erkenntnis, dass sich verbesserte Anti-Radar-Waffensysteme wie AARGM (das im Prinzip aus dem Waffensystem AGM-88C Block IV/V hervorgegangen ist) dazu eignen, solche Radarsysteme des Gegners zu entdecken und zu identifizieren, die sich der Ortung durch so genannte Shutdown Tactics zu entziehen versuchen. In Anbetracht der vielfältigen Verteidigungstaktiken eines potenziellen Gegners (darunter auch GPS-Jamming, aktive und passive Täuschkörper, Frequenzsprungverfahren) gibt es Hinweise darauf, dass der von einigen Nato-Staaten jetzt beschaffte Anti-Radar-Lenkflugkörper AARGM bessere Ergebnisse erzielen wird als AGM-88B Plus Block IIB/IIIB in der Vergangenheit. Der Hersteller, Northrop Grumman Innovation Systems (vormals Orbital ATK), verweist auf den Tatbestand, dass unter den AARGM-Komponenten für AGM-88B ein neuartiger Multi-Mode-Suchkopf verwendet wird, der den bisher genutzten passiven Radarsuchkopf ersetzt. Dieser umfasst einen breitbandigen passiven Anti-Radiation Homing (ARH)-Sensor, der kombiniert mit einem aktiven Millimeterwellenradar (mmW)-Sensor für den Endanflug und einer verbesserten GPS-unterstützten Inertialnavigationseinheit (Selective Availability Anti-Spoofing Module; SAASM) solche Radarsysteme des Gegners entdecken und identifizieren kann, die sich der Ortung durch Shutdown Tactics zu entziehen versuchen. Zudem besteht nach Herstellerangaben mit AARGM die Möglichkeit, Informationen über das Ziel bzw. Zielgebiet mit digitalen Geländeinformationen zu verknüpfen, um die GPS-Koordinaten zu erhalten, die erforderlich sind, um eine präzise Bekämpfung zu gewährleisten. “Dies ist dann von Bedeutung, wenn der Gegner Shutdown Tactics anwendet, um die Position seiner Luftverteidigungssysteme zu verschleiern”, sagt der Hersteller Northrop Grumman.

Mit der Extended Range-Variante AARGM-ER (hier im Waffenschacht einer F-35) kann die Einsatzreichweite der derzeitigen AARGM (150 km) verdoppelt werden. Eine erste Einsatzbereitschaft bei den US-Streitkräften wird im kommenden Jahr erwartet. (Foto: Northrop Grumman Innovation Systems)

Waren konventionelle Tarnmaßnahmen der gegnerischen Luftverteidigung in früheren Jahren eher auf eng begrenzte Spektralbereiche beschränkt, hatte sich die simultane Beeinflussbarkeit verschiedenartiger Signaturen zur Täuschung von Sensoren in Anti-Radar-Waffensystemen im Laufe der Zeit verstärkt, auch wenn viele dieser Tarn- und Täuschmaßnahmen in Konkurrenz zu immer intelligenteren Schutz- und Härtungsverfahren auf der Sensorseite stehen werden. Dieser Trend wird sich auch in der Zukunft weiter fortsetzen und bei den Kontrahenten zu weiteren Überlegungen führen. Demzufolge gilt, dass moderne Luftverteidigungssysteme auch bei unverzichtbarer aktiver Sensorik künftig durch ein striktes Abstrahlungsmanagement eine weitgehend minimierte Abstrahlungscharakteristik aufweisen werden, um sich modernen Bedrohungen aus der Luft zu erwehren. Größere passive Anteile dürften die Überlebenswahrscheinlichkeit von Komponenten der bodengebundenen Luftverteidigung beträchtlich erhöhen.

Stefan Nitschke

Stefan Nitschke

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