Die Koordinaten der Sicherheit verändern sich. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die sich verstärkende Militärpräsenz Moskaus entlang der Ostflanke der Nato führen dazu, dass Deutschland und viele seiner europäischen Nachbarländer sich einem zunehmenden Bedrohungspotenzial ausgesetzt fühlen. Die Konfliktlinien zwischen Ost und West treten seit geraumer Zeit verstärkt entlang der Grenze zu den baltischen Staaten zutage. Hier ist eine starke Massierung von Luftangriffskräften auf russischem und belarussischem Territorium erkennbar. Darunter befinden sich insbesondere mit modernen Anti-Radar-Lenkflugkörpern und Marschflugkörpern bestückte Kampfflugzeuge. Die Nato betrachtet außerdem die Stationierung von neu entwickelten Hyperschallwaffen mit Besorgnis. Gleichfalls entwickeln sich die traditionellen Bedrohungsszenarien – Flächenflugzeuge, Drehflügler, Drohnen/Drohnenschwärme, Antischiffsflugkörper, Unterschall-Abstandswaffen, weitreichende Raketenartillerie – weiter, wodurch sich zusätzliche Anforderungen an die vorhandenen Systeme der bodengebundenen Luftverteidigung ergeben.

Angesichts dieser Bedrohungen werden zukünftig neue Systeme für die bodengebundene Luftverteidigung benötigt. Mit ihnen soll das Territorium Deutschlands und seiner Verbündeten im Rahmen der Integrierten Luftverteidigung und Flugkörperabwehr – Integrated Air and Missile Defence (kurz IAMD) – der Nato geschützt werden. Hierzu ist die Ausrüstung mit bodengebundenen Luftverteidigungssystemen erforderlich, deren Abfangflugkörper eine Reichweite von 40 km haben und in der Lage sind, Ziele bis zu einer Höhe von 20 km zu bekämpfen. Darüber hinaus soll ein 360 Grad-Rundumschutz realisiert werden, der auch Angriffen mit Marschflugkörpern Rechnung trägt. Ebenso ist die vollumfängliche Interoperabilität mit der bestehenden Nato-integrierten Luftverteidigungsarchitektur unabdingbar.

Uneingeschränkter Zugriff auf nationale Schlüsseltechnologien: Komponenten des Ground-Based Air Defence-Systems im Test- und Integrationszentrum von Diehl Defence in Röthenbach a.d. Pegnitz. (Fotos: Diehl Defence)

Robuste Komponenten einer vernetzten Luftverteidigungsarchitektur

Robust, reaktionsschnell und flexibel – das sind nur einige Attribute von Komponenten aktueller und künftiger Luftverteidigungssysteme. Diehl Defence und HENSOLDT haben eine Vertiefung ihrer Kooperation auf dem Gebiet der bodengebundenen Luftverteidigung vereinbart, die durch Airbus zu einer nationalen Fähigkeit komplettiert wird. Auf Basis von bewährten Komponenten, die sich derzeit in Produktion befinden und kurzfristig lieferbar sind, wollen die Unternehmen Produktlösungen zur Abwehr von Flugkörper-Bedrohungen anbieten, die durch Diehl Defence zum Gesamtsystem integriert werden. Diese Luftverteidigungssysteme setzen neueste Technologien ein und bieten damit Potenzial für die Abwehr auch von neuartigen und sich künftig abzeichnenden Bedrohungen. Die Unternehmen gehen davon aus, dass sie damit einen Beitrag zum Umgang mit der veränderten Bedrohungslage für Deutschland und Europa leisten können.

Diehl Defence hat in seinem Luftverteidigungssystem mittlerer Reichweite (IRIS-T SLM) die Gefechtsstandard-Software IBMS-FC von Airbus und aktive wie passive Radarsysteme von HENSOLDT integriert, in die Serienproduktion überführt und bereits an einen Exportkunden geliefert. Die Lenkflugkörper von IRIS-T SLM sind Teil der IRIS-T Produktfamilie von Diehl Defence. IRIS-T SLM bietet 360 Grad-Schutz von hochwertigen Objekten und Gebieten gegen einen breiten Bedrohungskatalog. Hohe Feuerkraft, kürzeste Reaktionszeit und mehrfache, omnidirektionale Wirkungen offerieren überlegenen Schutz innerhalb einer effektiven Reichweite von 40 km und 20 km Höhenabdeckung. Hochauflösende Suchertechnologie in Kombination mit überragender Agilität ermöglichen es dem Lenkflugkörper, schnelle und stark manövrierende Ziele abzufangen. Zusätzlich ist es im Eigenschutz möglich, anfliegende Antiradar-Raketen abzufangen.

Der hohe Automatisierungsgrad ermöglicht den Betrieb des Systems mit minimalem Personalaufwand und erlaubt schnelle taktische Verlegungen bei kurzen Auf- und Abbauzeiten. Die vom Führungsgefechtsstand aus im Einsatz fernbedienten Startgeräte können bis zu 20 km vom Gefechtsstand entfernt eingesetzt werden. Das führt zu einer bedeutenden Raumabdeckung. Eine Feuereinheit mit vier IRIS-T SLM-Startgeräten deckt somit eine Fläche von rund 10.000 km² ab. Die hohe taktische Mobilität und die Möglichkeit des Lufttransports erleichtern das schnelle Verlegen des Systems in das Einsatzgebiet.

IRIS-T SLM kann durch Elemente der Kurzstrecken-Version IRIS-T SLS, das bereits in mehreren europäischen Ländern unter Vertrag ist und sich in Schweden im operativen Einsatz befindet, ergänzt werden. IRIS-T SLS bietet die Möglichkeit, alle Komponenten (Startgerät mit Effektor, Sensor und Feuerleitstand) eines Flugabwehrsystems auf nur einem geschützten Trägerfahrzeug zu kombinieren. Damit entsteht die dritte Generation des bewährten Systems: IRIS-T SLS Mk. III. Mit seiner hohen Grundmobilität und der „Fire-on-the-Move“-Fähigkeit ist dieses System in der Lage, Kräfte in der Bewegung gegen alle Bedrohungen aus der Luft innerhalb kürzester Reaktionszeiten zu schützen.

Mit beiden Systemen (SLS und SLM) ist es möglich, auch den Anforderungen an den so genannten Nah- und Nächstbereichsschutz (NNbS) gerecht zu werden. Hierzu hat Diehl Defence eine weiterentwickelte Variante vorgestellt, die bereits außerhalb der Nato unter Vertrag ist und sich in der Realisierung befindet. Damit steht ein Produktportfolio bereit, das die Bedarfe einer deutschen Luftverteidigung bedienen kann.

Die Zusammenarbeit der deutschen Unternehmen im Rahmen von IRIS-T SLM umfasst neben dem Startgerät mit Lenkflugkörpern auch den Führungsgefechtsstand – Tactical Operation Center Shelter (TOC Shelter). Der für einen ersten Exportkunden beauftragte TOC Shelter umfasst mehrere Feuerleitrechner von Diehl Defence und die Integrated Battle Management System (IBMS)-Software von Airbus. Er wurde gemäß den Anforderungen von Diehl Defence innerhalb von nur zweieinhalb Jahren entwickelt und gebaut. Die Kommandozentrale vernetzt als integraler System-Bestandteil von IRIS-T SLM dank „Plug-and-Fight“-Technologie Sensoren wie das Mittelbereichsradar mit den Startgeräten. Sie stellt bei Bedarf auch den Datenaustausch und die Kommunikation mit übergeordneten Gefechtsständen sicher.

Als Hauptsensor der IRIS-T SLM-Feuereinheit fungiert das aktive 3D-Multifunktionsradar TRML-4D von HENSOLDT. Durch die Kombination der AESA-Technologie der elektronischen Strahlsteuerung mit der Antennendrehung ist das Radar in der Lage, Ziele mit kleinen bis sehr kleinen Radarquerschnitten schnell und präzise zu erfassen und die Zieldaten in der für eine Bekämpfung notwendigen Qualität bereitzustellen. Das Radar basiert auf der Gallium-Nitrid (GaN)- Technologie. Im Vergleich zu anderen Halbleitermaterialien wie Galliumarsenid (GaAs) oder Silizium zeichnet sich GaN durch bessere Hochfrequenzeigenschaften und einen geringeren Energieverbrauch aus. Herkömmliche, auf der GaAs-Technologie basierende Radare verfügen nicht über die für die Entdeckung von sehr kleinen Luftzielen erforderliche Bandbreite. GaN bietet im Vergleich zu GaAs einen höheren Wirkungsgrad in Bezug auf die benötigte Fläche und arbeitet mit wesentlich höheren Spannungen. Hilfreich ist ein Vergleich der Chip-Größenverhältnisse: GaAs-Chips sind in der Regel größer als 15 mm2, während die Größe der GaN-Chips bei 12 mm2 liegt. Dieser Tatbestand erlaubt eine größere Packungsdichte. Hinzu kommt, dass GaN bei Frequenzen von mehreren hundert Gigahertz (GHz) eingesetzt werden kann. Dies führt zu größeren Entdeckungsreichweiten und der Fähigkeit, Objekte mit sehr kleinen Radarquerschnitten zu entdecken.

Als AESA-Radar mit aktiver elektronischer Strahlschwenkung ermöglicht das TRML-4D-Radar die Erfassung eines Luftziels bereits nach einer Antennenumdrehung. Radarsysteme früherer Generationen benötigen hierfür zwei bis drei Umdrehungen und führen dadurch zu einer geringeren Reaktionszeit und verzögerten Waffeneinweisung vor allem unter schwierigen Umgebungsbedingungen mit hoher Zieldichte. Die operationellen Vorteile des TRML-4D-Radars liegen auf der Hand: Es ist in der Lage, unter schwierigen Umgebungsbedingungen Feuerleitdaten von hoher Qualität auch bei Vorhandensein von Zielen mit sehr kleinen Radarquerschnitten bereitzustellen. Das TRML-4D-Radar ist zudem mit einem integrierten Sekundärradar für die automatische Freund-Feind-Erkennung (Identification Friend or Foe, IFF) ausgestattet. Es unterstützt den neuen Militärstandard Mode-5, der in allen Nato-Ländern eingeführt wird.

Die Zusammenarbeit der beiden Industriepartner beinhaltet außerdem das optionale Passivradar Twinvis. Damit ist es möglich, Luftziele, die über Stealth-Eigenschaften verfügen, frühzeitig zu detektieren, ohne dass der aktive Hauptsensor in Betrieb genommen werden muss. Damit bietet die Integration von passiver Radarfähigkeiten in das IRIS-T SLM-System eine mobile und emissionsfreie Radarlösung für die Luftraumüberwachung. Diese Zusatzfunktion ermöglicht eine omnidirektionale 3D-Verfolgung von mehr als 180 Objekten bis zu einem Radius von 250 km (Sensor-Ziel).

Großflächiger Schutz: Die modulare Auslegung des TRML-4D-Radars erlaubt eine reibungslose Integration in die Nato-Luftverteidigungsarchitektur.

Baldige Nutzung im Blickwinkel

IRIS-T SLM bietet bereits heute einen hoch-effektiven Schutz gegen Flächenflugzeuge, Rotorflügler, Flugkörper und Drohnen. Der Effektor erfüllt im Gegensatz zu alternativ diskutierten Lösungen alle Anforderungen an Reichweite und Leistungsfähigkeiten. Auf Basis der Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Exportprogramm vertiefen Diehl Defence und HENSOLDT nun die Kooperation mit Blick auf die Bedrohungslage in Deutschland. Gemeinsame Vorhaben für andere Kunden von Diehl Defence mit weiteren Partnern in anderen Ländern bleiben davon unbetroffen. Eine Leistungssteigerung des bestehenden Systems IRIS-T SLM ist bei Diehl Defence und HENSOLDT als IRIS-T SLX in Entwicklung, um das vorhandene Luftverteidigungssystem durch größere Reichweite (bis zu 80 km) und Höhenabdeckung (bis zu 30 km) gegen Luftziele zu ergänzen und damit Reaktions- und Vorwarnzeiten zu verkürzen.

Diehl Defence bestätigte bei einem Gespräch mit wt im April, dass die gemeinsamen Lösungen der beiden Partnerunternehmen im Fall einer baldigen Beschaffungsentscheidung ab dem dritten Quartal 2022 an den deutschen Kunden ausgeliefert werden können. Diehl Defence stellte klar, dass es sich hierbei um Produkte handelt, die als rein deutsche Systeme nicht auf ausländische Technologie angewiesen sind und dem Nutzer deshalb ein Höchstmaß an Zulassbarkeit und Zertifizierbarkeit zum Betrieb in Deutschland – mit vollständiger Interoperabilität in der Nato-integrierten Luftverteidigungsarchitektur – bieten. Damit kann eine höchstmögliche Versorgungssicherheit angeboten werden. Diehl Defence offeriert mit IRIS-T SLM als Generalunternehmer ein vollständiges Luftverteidigungssystem aus einer Hand an, das sich aus den Systemkomponenten Feuerleitzentrale, Radar und Flugkörper-Startgerät sowie einem vollständigen integrierten Logistik- und Support-Konzept – Integrated Logistics Support Concept (ILSC) – zusammensetzt.

Stefan Nitschke

Stefan Nitschke

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