Die „Saluschnyj-Doktrin“
Lehren aus der ukrainischen Offensive 2023 und die Zukunft der Drohnenkriegführung
Im dritten Jahr der Vollinvasion Russlands in der Ukraine hat sich der Kampf zu Lande an den meisten Fronten in einen Stellungskrieg gewandelt. Russland kann derzeit mehr Personal, Material und Munition in den Kampf bringen als die Ukraine und setzt auf einen Sieg durch Abnutzung. Im Folgenden veröffentlicht wt online eine Analyse von Oberstleutnant i.G. Andreas Rapp zur Bedeutung der Drohnenkriegführung in der Ukraine. Die Studie wurde im September 2024 beim German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) – Direktorat Strategische Studien und Forschung an der Führungsakademie der Bundeswehr (DSSF), Hamburg, der Fachöffentlichkeit vorgestellt.
Der ehemalige Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, hat in zwei Denkschriften dargelegt, welche Gründe zum Stellungskrieg geführt haben und warum die Offensive der Ukraine im Sommer/Herbst 2023 nicht erfolgreich war. Weiter beschreibt er, wie die Ukraine trotz numerischer Unterzahl durch technische Fähigkeiten, insbesondere Drohnentechnik und ein fortschrittliches Einsatzkonzept zu deren Nutzung, die Initiative im Krieg zurückgewinnen könnte. Aus den Einlassungen Saluschnyjs lassen sich Folgerungen hinsichtlich der Operationsführung der russischen Streitkräfte und Folgerungen in Bezug auf die Kräfte- und Operationsplanung Deutschlands für eine mögliche Auseinandersetzung mit Russland ableiten. Seine gesamtheitlichen Betrachtungen zum aktuellen und zukünftigen massenhaften Drohneneinsatz, im Sinne einer Drohneneinsatzdoktrin, bieten einen Einblick in eine mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorstehende Evolution der Landkriegsführung, mit Ableitungen für die Entwicklung eigener fortschrittlicher Drohneneinsatz- und Abwehrkonzepte. Saluschnyjs Ausführungen sind somit auch im Hinblick auf Folgerungen für die Kriegstüchtigkeit deutscher Streitkräfte von Relevanz.
Saluschnyjs Denkschriften
General Saluschnyj veröffentlichte seine beiden Denkschriften über die Medien: Die erste mit dem Titel „Modern positional warfare and how to win it“ wurde im November 2023 als Anlage zu einem Interview auf economist.com4 veröffentlicht, die zweite mit dem Titel „On the Modern Design of Military Operations in the Russo-Ukrainian War: In the Fight for the Initiative“ Anfang Februar 2024 als Anlage auf CNN.com. Im ersten Papier analysiert Saluschnyj die Sommer/Herbstoffensive 2023 der Ukraine und benennt fünf Faktoren, warum die Offensive zu Lande nicht erfolgreich war. Er zeigt weiter Möglichkeiten auf, wie diese Faktoren durch geeignete Fähigkeiten adressiert werden können, um aus dem Stellungskrieg wieder in den Bewegungskrieg überzugehen.
Luftüberlegenheit: Die Ukraine hatte keine Luftüberlegenheit während ihrer Offensive, was zum Scheitern beigetragen hat. Es wird künftig die Möglichkeit gesehen, zeitlich begrenzt lokale Luftüberlegenheit herzustellen, indem den gegnerischen Luftstreitkräften das Operieren in dem Gebiet verwehrt wird. Gleichzeitig werden eigene Unmanned Aircraft Systems (UAS) massenhaft eingesetzt bei gleichzeitiger Störung/Abnutzung gegnerischer UAS und weitreichender Wirkmittel durch Elektromagnetischen Kampf und Flugabwehr.
Öffnen von Minensperren in der Tiefe: Der Kampf mit Sperren durch die russischen Streitkräfte hat wesentlich zum Übergang in den Stellungskrieg beigetragen. Russische Sperrsysteme seien entlang der wichtigen Achsen 15 bis 20 Kilometer tief, würden mit UAS und Feuer (vor allem Artillerie, aber auch Kampfhubschrauber) überwacht und geöffnete Stellen mit Wurfminen schnell wieder geschlossen. Hier müssten neue Konzepte zur Sperrerkundung, zum Öffnen von Sperren, zur Verschleierung des Öffnens und zur Unterdrückung gegnerischer Überwachungsdrohnen entwickelt und eingesetzt werden.
Counterbattery Fire: Je nach Frontabschnitt werden 60% bis 80% der Verluste durch Rohr- und Raketenartillerie verursacht. Counterbattery Fire (CB) sei daher bei beiden Kriegsparteien hoch priorisiert. 155 mm-Geschütze mit GPS-gelenkter Munition hätten an Wirksamkeit im CB aufgrund russischer Auflockerung und Störung des GPS verloren. Die Ukraine müsse daher oft weitreichende, präzisionsgelenkte Mehrfachraketenwerfersysteme für CB einsetzen, was die Munitionsbestände weiter belaste. Salushnyj fordert eine Erhöhung der Aufklärungsfähigkeit, die Erhöhung der Präzision von GPS-gelenkter Munition durch den Aufbau lokaler „GPS-Felder“ und eine Lastenteilung der CB-Aufgaben hin zu Aufklärungs- und Wirkkomplexen auf Basis von UAS.
Aufstellung und Vorbereitung von Reserven: Beide Seiten hätten aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten bei der Aushebung und Aufstellung neuer Reserven und der Rotation aus der Front. Die Ukraine suche nach Wegen, die Wehrerfassung, die Ausbildung und die Attraktivität des Dienstes zu erhöhen. Unverändert gelte, dass die Ausbildungsmöglichkeiten auf eigenem Territorium limitiert seien, weil Ausbildungseinrichtungen angegriffen werden könnten.
Elektromagnetischer Kampf (EK): Sowohl Russland als auch die Ukraine haben ihre EK-Fähigkeiten massiv ausgebaut. Mittlerweile könne Satellitennavigation entlang der gesamten Frontlinie und in weiten Teilen der Ukraine unterdrückt und insgesamt ein Gleichgewicht in den Aufgaben des EK hergestellt werden. Die Aufgabenerfüllung beider Seiten werde damit erheblich behindert. Um im EK eine Überlegenheit herzustellen, benötige die Ukraine unverändert weitreichende Signalerfassende Aufklärung (Signals Intelligence; SIGINT) durch Partner, den Aufbau eines gemeinsamen EK-Lagebilds, elektronische Gegenmaßnahmen sowie zum EK befähigte UAS zur Unterstützung von Angriffsoperationen.
Neben diesen fünf Handlungsfeldern stellt Saluschnyj die Bedeutung von Führungsüberlegenheit durch Führungsinformationssysteme sowie die besondere Relevanz einer fähigen Logistik (von der Produktion bis zur Einsatzstellung) mit ausreichenden Lagerbeständen (bis der Zulauf aus der Produktion erfolgt und um Reserven zu bilden) und der Möglichkeit, Materialflüsse nach Bedarf rationell zu steuern, heraus. Um die gegnerische Logistik zu zerschlagen, benötige die Ukraine weitreichende Raketensysteme, vorzugsweise aus eigener Produktion. Die zweite Denkschrift schließt an die erste an und führt, neben einigen Gedanken zu Resilienz und Wandelfähigkeit von Streitkräften im Verlauf eines Krieges, insbesondere die Überlegungen zum Krieg mit Drohnen in Verbindung mit EK fort. Zunächst hält Saluschnyj fest, dass die Aufgabe der ukrainischen Streitkräfte sich im Verlauf des Krieges gewandelt habe. Anfänglich sei die Hauptaufgabe gewesen, Zeit zu gewinnen und dem Feind die Initiative zu entreißen. Im weiteren Verlauf des Krieges gehe es nun darum, Wege zum eigenen Sieg zu identifizieren und die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Saluschnyj sieht diesen Weg für die Ukraine vor allem in der breiten (und massenhaften) Anwendung von unbemannten Systemen. Sie seien möglicherweise das einzige Mittel, um den Stellungskrieg aufzubrechen, insbesondere, da konventionelle Mittel nicht oder nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung stünden. Saluschnyj sieht dabei die Notwendigkeit, die Operationsführung an die technischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten unbemannter Systeme anzupassen. Es bedürfe eines neuen „Designs von Operationen“, welches sich weniger an der herkömmlichen Sequenzierung von Kräften nach Raum und Zeit in Gefechten orientiert, sondern an der Herstellung von entscheidenden Bedingungen („Decisive Conditions“). Als Auswahl solcher Bedingungen nennt er Luftüberlegenheit in den für UAS relevanten Höhen, Wegnahme der gegnerischen Operationsfreiheit in Angriff und Verteidigung, Förderung eigener und Hemmen gegnerischer Bewegungen sowie Überwachung, Sicherung und Verwehrung von Geländeabschnitten. Mit Drohnen ergäben sich neue Wege, diese „konservativen und klassischen“ Bedingungen zu erreichen, die sich doktrinär als neuartige Aufgaben/Aktivitäten beschreiben ließen. Diese unterteilt er in „Voraussetzungen schaffende“ und „direkte“ (d. h. Effekte erzielende) Aufgaben/Aktivitäten. Als Beispiele nennt er das „Herstellen digitaler Felder“, „Kontrolle des radioelektronischen Felds“, „Angriffsoperationen verbundener UAS und Cybermittel“ sowie „logistische Operationen“. Direkte Aktivitäten unterteilt er nach ihrem Einsatzzweck und nennt dabei Operationen zur Reduzierung der gegnerischen ökonomischen Möglichkeiten, Operationen zur Isolation und Abnutzung von Feindkräftegruppierungen, robotergestützte Such- und Schlagoperationen, robotergestützte Operationen zur Kontrolle eines Krisenabschnitts, Psychologische Kriegsführung durch Hacking und Verteidigungsoperationen ohne (menschlichen) Kontakt.
Mit den Einsatzmöglichkeiten neuer technischer Systeme ergäben sich somit neue Gefechtshandlungen/taktische Aktivitäten und daraus zusammengefasst eine Weiterentwicklung der Operationsführung, die zur Etablierung von neuer Doktrin, Einsatzgrundsätzen und Organisation führen würde. Dies würde auch den Charakter der klassischen Gefechtsarten (hinsichtlich der Nutzung der Faktoren Kräfte, Raum, Zeit, Information) grundsätzlich verändern. Neben der Erhöhung des Gefechtswerts der eigenen Truppe seien unbemannte und andere technische Systeme in der Lage, Kernprobleme der Streitkräfte zu lösen. Hier nennt Saluschnyj insbesondere die Verringerung eigener Verluste und den Zugewinn an Abstandsfähigkeit sowie die Reduzierung der Abhängigkeit von traditionellen (schweren) Waffensystemen. Die Umsetzung erfordere die Schaffung eines neuen hochflexiblen, gesamtheitlichen, staatlichen Entwicklungs- und Produktionssystems. Salushnyj sieht eine Implementierungschance eines solchen Systems innerhalb von fünf Monaten.
Erkenntnisse aus der Offensive 2023
Saluschnyjs Schrift vom November 2023 war ein öffentliches Eingeständnis der ukrainischen militärischen Führung, dass die Sommer- bzw. Herbstoffensive dauerhaft steckengeblieben war, verbunden mit einer Analyse der Gründe und Möglichkeiten zur Behebung. Die adressierten Handlungsfelder und Fähigkeitsdefizite der ukrainischen Streitkräfte sind bekannt, obgleich die Aufzählung nicht vollständig ist. So werden z. B. Ausbildung und Führung von (Groß-)Verbänden nicht weiter behandelt. Saluschnyjs Auswahl stellt seine Priorisierung der benötigten Fähigkeiten und Ressourcen für zukünftige, erfolgreiche (offensive) Operationen gegen russische Streitkräfte in einer vorbereiteten Verteidigung dar. Die skizzierten Lösungsansätze in den Handlungsfeldern zeugen davon, dass die Ukraine die Offensive ausgewertet hat sowie Willens und in der Lage ist, daraus zu lernen. In dem Sinn kann die Denkschrift auch als ein Baustein im Werben um weitere materielle Unterstützung aus dem Westen verstanden werden Eine wichtige Lehre ist, dass die russischen Streitkräfte auf einen langen Krieg grundsätzlich vorbereitet sind, sich in ihrem Krieg in der Ukraine auch strukturell darauf eingestellt haben und den Faktor Zeit zu ihren Gunsten nutzen, wenn man sie lässt. Dies betrifft sowohl die Anpassung von Technik und Taktik als auch die stetige Konsolidierung und den Ausbau von erzielten Geländegewinnen zur vorbereiteten Verteidigung sowie Mobilisierung und Heranführung strategischer Reserven.
Russland hat damit die Zeit von Herbst 2022 (Kulmination des initialen russischen Angriffs sowie des ukrainischen Gegenangriffs bei Charkiw und Cherson) bis Sommer 2023 besser nutzen können als die ukrainischen Streitkräfte. Denen ist es nicht gelungen, rechtzeitig ausreichend Kräfte, Fähigkeiten und Munition für eine erfolgreiche Offensive bereit zu stellen. Dies lag auch an der zögerlichen und unter dem artikulierten Bedarf liegenden Bereitstellung von Großgerät, Waffensystemen und Munition durch die Partner. Die von Saluschnyj aufgeführten Fähigkeitsdefizite waren Grund für den verringerten Gefechtswert der eingesetzten Kräfte gegen eine vorbereitete Verteidigung und trugen erheblich dazu bei, dass die russische Verteidigung an keiner Stelle durchbrochen werden konnte. Der Kampf ging schnell von mechanisiertem Gefecht zu weitestgehend kleinteiligem, infanteristisch geprägtem Angriff über, der nach Monaten kulminierte und in der Folge wieder in den immer noch vorherrschenden Stellungskrieg überging. Saluschnyjs taktische und technische Lösungen zielen auf eine Erhöhung des Gefechtswerts eigener Truppen im Stellungskrieg bis hin zur Überwindung desselben auch unter dem Eindruck zeitweise ausbleibender materieller Unterstützung aus dem Westen. Dies könnte – wenngleich spekulativ – eine der Motivationen Saluschnyjs zur Veröffentlichung der beiden Papiere gewesen sein: Darstellung der Lern- und Adaptionsbereitschaft der ukrainischen Streitkräfte und Darlegung eines sinnvollen Plans für die weitere Kriegsführung, um für weitere Unterstützung durch Partner nach einer offensichtlich hinter den Erwartungen gebliebenen Offensive zu werben. Angewandt auf die Unterstützer der Ukraine, die Bundeswehr und Nato, sind die Denkschriften ein Plädoyer für weitere rasche, kontinuierliche und substanzielle materielle Unterstützung der Ukraine als Beitrag zur Überwindung des Stellungskriegs und damit zur Schaffung der Voraussetzungen für ein günstiges Kriegsende.
Folgerungen für die Bündnisverteidigung der Nato
Eine direkte Übertragung der Lehren aus der ukrainischen Offensive gegen vorbereitete russische Stellungen im Süden der Ukraine auf einen möglichen Angriff russischer Streitkräfte auf Nato-Bündnisgebiet ist nicht ohne weiteres möglich. Das Bündnis ist zum Gefecht der verbundenen Waffen der Teilstreitkräfte befähigt und sollte grundsätzlich in der Lage sein, mindestens zeitlich und räumlich begrenzt gegen die limitierten Fähigkeiten der russischen Luftstreitkräfte und Flugabwehrtruppen Luftüberlegenheit bzw. auf Dauer Luftherrschaft zu erringen. Mit diesen Fähigkeiten stünden auch Offensive- und Durchbruchsoperationen zur Wiederherstellung der territorialen Integrität des Bündnisgebiets unter anderen Vorzeichen und Rahmenbedingungen, die im günstigsten Fall eher ihr Vorbild in „Desert Storm“ (1991) nehmen könnten. Die Grundvoraussetzung dafür ist das Vorhandensein ausreichender Fähigkeiten für eine Luft- bzw. Landkampagne: Zum Gefecht der verbundenen Waffen befähigte einsatzbereite Kräfte (Großverbände) der Landstreitkräfte sowie Luftstreitkräfte, die mindestens eine günstige Luftlage erringen sowie halten und unter diesem Schirm die operativen Fähigkeiten des Gegners (insbesondere Logistik, Führung, Folgekräfte, Reserven) zerschlagen bzw. abriegeln können – eingedenk einer je nach Einsatzraum entsprechenden maritimen Komponente. Dazu gehört eine eigene robuste Logistik, Munitionsbevorratung, personelle und materielle Reserven sowie die Fähigkeit, eigene Kräfte schnell an die bedrohte bzw. angegriffene Bündnisgrenze zu verlegen. Auch wenn das Bündnis in einem langen Krieg gegen Russland ein erdrückendes wirtschaftliches, industrielles, entwicklungstechnisches und personelles Übergewicht mobilisieren kann, wird es im Kriegsfall aus verschiedenen Überlegungen darum gehen müssen, den Aggressor möglichst schnell, entschieden und entscheidend zu schlagen, um zu verhindern, dass sich ein schneller gegnerischer Angriffserfolg einstellt, konsolidiert und politisch ausgenutzt werden kann. Dies wird politisch-strategisch geboten sein, um die Einigkeit, gemeinsamen Verteidigungswillen und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses nachzuweisen und personellen und materiellen Schaden im angegriffenen Land zu minimieren. Aber auch aus taktisch-operativen Erwägungen kann es insbesondere dort sinnvoll oder notwendig sein, wo sich Raumverluste durch geringe räumliche Tiefe schnell nachteilig auf die Möglichkeit zur eigenen zusammenhängenden Gefechtsführung auswirken können, oder Bevölkerungszentren bedroht sind, die nicht preisgegeben werden sollen wie im Baltikum. Die auf eigenen Fähigkeiten begründete, überzeugend kommunizierte und demonstrierte Bereitschaft zur schnellen und entschiedenen konventionellen Abwehr jeden Angriffs auf das Bündnisgebiet ist zudem ein wesentlicher Eckpfeiler einer glaubwürdigen Abschreckungsstrategie.
Die Zukunft beginnt jetzt: drohnengestützte Multi-Domain Operations
Während Saluschnyjs erste Denkschrift über weite Strecken konventionell bleibt und notwendige Anpassungen und Verstärkungen der Fähigkeiten der bestehenden Streitkräfte beschreibt, ist seine darauf aufbauende zweite Denkschrift deutlich visionärer. Der Masseneinsatz von Drohnen ist hierbei nicht nur Komplement und Substitut für anderweitig fehlende Fähigkeiten und Ressourcen. Salushnyj skizziert vielmehr ein Kriegsbild, in dem der Drohneneinsatz im Schwerpunkt der Operationsführung steht, um taktische, operative und strategische Effekte entlang der gesamten gegnerischen Prozesskette von der ökonomischen Basis über die Bereitstellung der Kräfte und Mittel bis hin zu deren Einsatz zu erzielen. Dies beinhaltet und bedingt auch die Anpassung bzw. Etablierung von Strukturen und Organisation sowie Auswirkungen auf Einsatzdoktrin mit Innovationen im Bereich der Gefechtshandlungen, daraus angepassten Einsatzgrundsätzen und neuen Begriffen. Der Fokus seiner Arbeit liegt dabei auf Landoperationen und UAS, wobei er in Einschüben auch die Relevanz von unbemannten Systemen in der Seekriegsführung im Schwarzen Meer unterstreicht. Saluschnyjs Beschreibung der Prozesskette zum Erreichen von notwendigen Voraussetzungen entspricht dabei der Methodik des operativen Planungsprozesses der Nato (End State → Objective → Decisive Condition → Effect → Action → Task → Troops) und ist ein Indiz dafür, wie sehr Nato-Doktrin bereits in (Teilen) der ukrainischen militärischen Führung „angekommen“ ist. Saluschnyj wurde kurz nach der Veröffentlichung der Denkschrift abgelöst. Es gibt jedoch viele Indikatoren, die zeigen, dass die Ukraine den von ihm postulierten Weg tatsächlich verfolgt. So hat wenige Tage nach Erscheinen des Artikels Präsident Selenskyj ein Dekret zum Aufbau einer „Unmanned Systems Branch“, die alle Fähigkeiten in dem Bereich bündeln soll, unterzeichnet. Saluschnyjs Nachfolger, General Oleksandr Syrskyj, hat ebenfalls öffentlich erklärt, dass die Entwicklung und der Einsatz unbemannter Systeme als „Schlüssel zur Überlegenheit über den Feind“ hoch priorisiert sei. Hinzu kommen Meldungen über gesteigerte Produktionsmengen im Bereich Drohnen sowie Meldungen über Drohneneinsätze in der Land- und Seekriegsführung, welche in dieses Muster passen:
1.
Die Abnutzung der russischen Schwarzmeerflotte, deren Führung und Logistik bis hin zur faktischen Verdrängung aus dem westlichen Schwarzen Meer und den Krimhäfen mit Drohnen, Luftstreitkräften und Spezialkräften kann in diesem Kontext bereits als Nachweis der Tauglichkeit des Konzepts gesehen werden. Die Kampagne ermöglichte es der Ukraine, Getreideexporte über das Schwarze Meer wieder aufzunehmen, was für sich genommen schon ein strategischer Erfolg ist. Die Verdrängung der Schwarzmeerflotte aus dem westlichen Schwarzen Meer macht die Krim anfälliger für Angriffe von der See und aus der Luft. Die priorisierte Vernichtung der russischen Landungsschiffe macht zum einen eine russische amphibische Landung bei Odessa unwahrscheinlich bis unmöglich, zum anderen wird damit Frachtraum zur Versorgung der Krim und Südukraine zerstört, womit Russlands logistische Versorgung der Krim weiter unter Druck gerät.
2.
Die Angriffe auf die russische ölverarbeitende Industrie, die um den Jahreswechsel begannen, sind Teil einer strategischen Kampagne, mit dem Ziel, die russische Kriegsökonomie zu schwächen. Die Eindringtiefen der Drohnen übersteigen dabei bereits 1.000 Kilometer und OSINT-Videos vom Endanflug zeigen, dass einzelne Gebäude gezielt angegriffen und getroffen werden können. Ebenso finden in unregelmäßigen Abständen Angriffe auf Ziele in der Region Moskau statt, die strategisch das Signal senden, dass „der Krieg auch nach Russland kommt“. Im Bereich der taktischen bodengebundenen Drohnen der Landstreitkräfte gibt es vermehrt Berichte und OSINT-Einsatzvideos über bodengebundene Drohnen zu logistischer Versorgung, Anlegen von Sperren und Sprengung gegnerischer Kampfstände.
3.
Zudem wird die Technik der bekannten Angriffsdrohnen im taktischen Einsatz weiterentwickelt. Es kommt vermehrt „einfache“ künstliche Intelligenz (KI) vor allem bei der Härtung von FPV-Drohnen gegen Maßnahmen des EK zur Anwendung. Hier übernimmt die KI die Zielauffassung und den Endanflug in das Ziel auch bei Verbindungsabbruch zur Basisstation. Die Steuerung und Koordination des Einsatzes einer Vielzahl von Drohnen unter einheitlichem Kommando in einem bestimmten Gebiet („Schwarm“) ist derzeit noch in einem experimentellen Stadium. Hier soll zukünftig die KI-Aufgaben wie Aufklärung, Flugwegsteuerung, Kommunikation zwischen den Geräten übernehmen; Aufgaben, bei denen sonst für jede Drohne jeweils ein Pilot gebunden wäre. Dies macht deutlich, dass viele der für das von Saluschnyj beschriebene Konzept notwendigen Fähigkeiten bereits zur Verfügung stehen, eingesetzt werden oder ihre Einsatztauglichkeit gerade unter Beweis stellen.
Daher ist die generelle Anwendung auf die Landkriegsführung in der Realisierbarkeit nicht abwegig, sobald die Systeme massenproduziert zur Verfügung stehen und die notwendigen Strukturen, insbesondere in der Führung, Logistik und Ausbildung, etabliert sind. Derzeit scheinen die Systeme meist noch einzeln gesteuert zu werden, die Anwendung von KI/Autonomie zur Härtung gegen Maßnahmen des EK und Ermöglichung des massenhaften, zeitgleichen Einsatzes an mehreren/allen Fronten steht noch am Anfang. Der Erfolg des Drohneneinsatzes ist damit stark von der Ausbildung und Erfahrung der Drohnenpiloten abhängig. Drohneneinheiten sind oft in den Brigaden oder als selbstständige Einheiten auf Initiative Einzelner dezentral entstanden und wurden oftmals über Spenden ausgestattet. Die Anzahl der Drohneneinheiten mit hohem Gefechtswert ist daher begrenzt; erfahrene Einheiten werden oft als „Feuerwehr“ akut zur Verstärkung und Bereinigung von Krisen an allen Fronten eingesetzt. Die derzeitige Dynamik des Kriegsgeschehens in der Ukraine, mit der Notwendigkeit und dem Willen der ukrainischen Seite, eigene Verluste zu minimieren, fehlende Luftüberlegenheit und knappe Artilleriemunition zu substituieren, dennoch Erfolge gegen einen zahlenmäßig überlegenen Gegner auf dem Gefechtsfeld zu erzielen und perspektivisch den Stellungskrieg zu überwinden, wirkt wie ein Katalysator.
Im Ansatz gilt es, den Krieg mehr und mehr mit kostengünstigen, massenhaft produzierten, hochpräzisen und wirkungsvollen unbemannten Systemen zu führen und die Fähigkeit stetig auszubauen. Für sich stellt diese Tendenz schon einen erheblichen Entwicklungssprung dar, die das Kriegsbild bereits jetzt nachhaltig geprägt und in Teilen der Land- und Seekriegsführung auch verändert hat. Vergleichbar ist sie mit der Erfindung und dem Masseneinsatz von Maschinengewehren, weitreichender Schnellfeuerartillerie mit in industriell gefertigten Sprenggeschossen, Panzern und Flugzeugen (und den Waffen zur Abwehr dieser Wirkmittel), die neben anderen Erfindungen des Industriezeitalters das Bild des Krieges deutlich verändert haben. Schnellfeuerwaffen und Stacheldraht haben spätestens im Ersten Weltkrieg zunächst vor allem den Verteidiger gestärkt, den bis dahin oft entscheidenden Infanterieangriff in Linientaktik entwertet und ein kaum entscheidend zu überwindendes „Niemandsland“ zwischen den gegnerischen Stellungen geschaffen. Eine vergleichbare Entwicklung ist mit dem Einsatz von Drohnen zu beobachten. Hier wird oftmals bereits die Zusammenziehung von Kräften, Anmarsch und Annäherung für einen Angriff frühzeitig aufgeklärt und bis zur Zerschlagung abgenutzt, bevor der Angreifer überhaupt in Reichweite der Stellungen des Verteidigers kommt.
Damit wird es grundsätzlich schwieriger – wenn auch nicht unmöglich – taktische oder operative Überraschung zu erzielen. Durch die Bündelung von massiven Drohnenfähigkeiten unter einheitlichem Kommando, eingebettet in eine operative Doktrin mit gemeinsamen taktischen Einsatzgrundsätzen und -verfahren, steht auch im offensiven Einsatz ein möglicher rasanter Entwicklungssprung bevor. Dieser hat ein ähnliches Potenzial wie die Weiterentwicklung und Nutzung der Techniken des Ersten Weltkriegs hin zum mechanisierten und motorisierten Gefecht der verbundenen Waffen mit der Zielsetzung, die Offensive zu stärken und im Angriff wieder Entscheidungen erzielen zu können. Saluschnyjs Vorstellung, taktische, operative und strategische Effekte von der Frontlinie über die Bereitstellungsräume, Führungs- und logistischen Einrichtungen in der Tiefe bis hin zur gegnerischen strategischen Basis in allen Dimensionen zu erzielen und so den Gegner auszuhöhlen, zu isolieren und dann zu zerschlagen, kann dabei als Skizze einer drohnengestützten Multi-Domain Operation gesehen werden. Das klare Ziel ist, die Initiative über den Gegner zu gewinnen und dessen Handlungsfähigkeit stetig einzuschränken.
Folgerungen
General Waleryj Saluschnyj hat in seinen Positionspapieren dargelegt, welche Fähigkeiten konventionelle Streitkräfte haben müssen, um gegen Russland aktuell bestehen zu können und die Initiative zu erhalten. Darüber hinaus hat er einen Weg aufgezeigt, wie der Einsatz konventioneller Streitkräfte um den Einsatz von Drohnen erweitert werden kann, bis hin zu vollwertigen drohnengestützten Multi-Domain Operationen. Die Verdrängung der russischen Flotte aus dem westlichen Schwarzen Meer, die strategische Kampagne gegen die russische ölverarbeitende Industrie und die Abwehr der russischen Offensive bei Charkiw waren ohne den Einsatz von Drohnen nicht möglich und sind Beispiele der Umsetzung des Konzepts durch die ukrainischen Streitkräfte. Die technische Entwicklung, aber auch die Entwicklung von Einsatzdoktrin auf dem Feld des Drohneneinsatzes sowie deren massenhafter Einsatz schreiten dabei rasant voran.
Die Tür zum gefechts- und möglicherweise kriegsentscheidenden Einsatz von günstigen Drohnen wird dadurch weiter aufgestoßen und möglicherweise zum ersten Mal mit einer kritischen Masse von Fähigkeiten und entsprechender Doktrin hinterlegt, um entscheidende Effekte über alle Ebenen in einem hochintensiv geführten Krieg zu erzielen. Diese Entwicklung zeichnete sich spätestens seit dem Krieg Aserbaidschans gegen Armenien 2020 ab26 und wird sich auch mit hoher Wahrscheinlichkeit in allen zukünftigen Konflikten und Kriegen fortsetzen. Insbesondere taktische Aufklärungs- und FPV-Drohnen sind bis auf die Wirkmittel frei für jedermann günstig erhältlich, weitreichende Proliferation muss daher als gegeben angesehen werden. Die Entwicklung der Drohnentechnik ist derzeit eng verschränkt mit der Entwicklung von Abwehrwirkmitteln, insbesondere denen des EK. Die Wechselwirkung zwischen Offensivpotenzial von Drohnen und Abwehrpotenzial durch EK ist ein Haupttreiber der Geschwindigkeit der technischen Entwicklung in beiden Feldern.
In dem Maß, wie sich die Drohnentechnik fortentwickelt, muss zur Sicherstellung der Überlebens- und Durchsetzungsfähigkeit auch die Abwehrtechnik des EK weiterentwickelt und verfügbar gemacht werden. Der Einsatz von Drohnen mit KI zur autonomen Steuerung, Zielauffassung und Zielbekämpfung hat dabei das Potenzial, Maßnahmen des EK in Teilen unwirksam zu machen. Daher wird zukünftig kinetischen und hochenergetischen Abwehrsystemen vermehrte Relevanz zukommen. Daraus ergeben sich auch für den Einsatz der deutschen Streitkräfte Folgerungen:
Eine Armee, die Drohneneinsatz und den Kampf im elektromagnetischen Spektrum nicht berücksichtigt, wird zukünftig nicht mehr durchsetzungs- und überlebensfähig sein. Selbst dann, wenn die Bundeswehr zunächst nicht zu den gleichen Mitteln greift, wird es entscheidend für die Kriegstüchtigkeit und Verteidigungsfähigkeit sein, in naher Zukunft Vorbereitungen zu treffen, um mit und gegen Drohnen in allen Dimensionen wirken zu können. Dies betrifft nicht nur die technischen Aspekte, sondern auch die Weiterentwicklung von Einsatzdoktrinen aller Teilstreitkräfte sowie die Benennung und Einordnung der neuen Einsatzverfahren als Gefechtshandlungen/taktische Aktivitäten in der Taxonomie der Gefechtsarten. Die Abwehrmaßnahmen gegen Drohnen müssen in allen Dimensionen weiterentwickelt werden. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Abwehrmaßnahmen dauerhaft ökonomisch und im Verhältnis zur Bedrohung durchhaltefähig sein müssen.
Um zukunftsfähig zu sein, müssen sie aus einem robusten Verbund verschiedener Sensoren und Wirkmittel bestehen. Zum Erhalt der Durchsetzungsfähigkeit ist es darüber hinaus notwendig, den eigenen Drohneneinsatz vorzubereiten und die dafür notwendigen Einsatzkonzepte zu entwickeln. Es ist dabei der gleiche rechtliche (und ethische) Maßstab an den Einsatz von Drohnen als Wirkmittel anzulegen wie an den Einsatz anderer weitreichender Wirkmittel in Form von Artillerie, Lenk- oder Marschflugkörpern. Ratsam ist vermutlich nicht, bereits jetzt in die langfristige Beschaffung eigener Drohnen eines bestimmten Typs in großer Stückzahl zu investieren, da die Innovationszyklen gerade sehr kurz sind und Systeme schnell ihre Wirksamkeit im Einsatz verlieren, angepasst oder ersetzt werden müssten. Die Bundeswehr sollte jedoch Zugang zugesicherten Produktionskapazitäten haben oder schaffen, regelmäßig aktuelle Systeme in notwendigen Stückzahlen beschaffen und in Truppen- und Feldversuchen einsetzen, um den Fähigkeitsaufbau und -erhalt zu gewährleisten und bei künftigen Entwicklungsschritten mitzuhalten.
Andreas Rapp, „Die „Saluschnyj-Doktrin“. Lehren aus der ukrainischen Offensive 2023 und die
Zukunft der Drohnenkriegsführung“, #GIDSstatement 9/2024, German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) – Direktorat Strategische Studien und Forschung an der Führungsakademie der Bundeswehr (DSSF), Hamburg, September 2024, ISSN 2699-4372