European Sky Shield Initiative

Wachsende Bedrohung: Russland arbeitet an der Entwicklung von hypersonischen
Waffensystemen wie der nuklearfähige Stratosphären-Gleitflugkörper Avangard –
durch die indirekte Flugbahn ist das eigentliche Zielgebiet für Raketenabwehrsysteme
kaum kalkulierbar.

Foto: Russisches Verteidigungsministerium

Deutschland will die Führungsrolle bei der europäischen Luftverteidigung

Was eine wirkungsvolle Luftverteidigung ausmacht

Europa soll besser gegen Gefahren aus der Luft geschützt werden. Ziel der im Oktober 2022 durch Deutschland verkündeten „European Sky Shield Initiative“ – kurz ESSI – ist es, seit langem bestehende Fähigkeitslücken in der bodengebundenen Luftverteidigung zu schließen. Mit der vor dem Hintergrund einer wachsenden Bedrohung durch Russland ergriffenen Initiative soll der Aufbau eines verbesserten europäischen Luftverteidigungs- und Raketenabwehrsystems vorangetrieben werden. Deutschland hat hierfür seine Führungsrolle angemeldet und am 13. Oktober 2022 mit 14 Partnerstaaten eine Absichtserklärung unterzeichnet, mit der Lücken im bisherigen Schutzschirm geschlossen werden sollen.

Der Russland-Ukraine-Krieg führt zu der Erkenntnis, dass die europäischen Nato-Staaten nicht über hinreichende Fähigkeiten zur Abwehr ballistischer und manövrierender Flugkörper (einschließlich Drohnen) verfügen. Ein ursprünglich zur Abwehr iranischer taktischer ballistischer Flugkörper (Tactical Ballistic Missiles; TBMs) geschaffener Schutzschirm (Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence; ALTBMD) reicht nicht aus, um moderne Bedrohungen vor allem im oberen Abhaltebereich (upper tier) frühzeitig orten und wirksam bekämpfen zu können.

Abwehrbereit: Mit der von Deutschland angestoßenen European Sky Shield Initiative kann es gelingen, einen Luftverteidigungs- und Raketenabwehrschirm für einen großen Teil des europäischen Kontinents herzustellen. Grafik: Stiftung Wissenschaft und Politik
Abwehrbereit: Mit der von Deutschland angestoßenen European Sky Shield Initiative kann es gelingen, einen Luftverteidigungs- und Raketenabwehrschirm für einen großen Teil des europäischen Kontinents herzustellen. Grafik: Stiftung Wissenschaft und Politik

 

Neuerdings bereiten hyperschallschnelle Bedrohungen wie Hyperschallmarschflugkörper (Hypersonic Cruise Missiles; HCMs), die über ein großes Reichweitenpotenzial verfügen, der Nato Sorgen. Ziel der inzwischen von 23 europäischen Nato-Staaten unterstützten European Sky Shield Initiative ist es, bestehende Ausrüstungsdefizite im Wege gemeinsamer Beschaffungen zu schließen. Ein von Deutschland beauftragtes Raketenabwehrsystem – Arrow 3 – kann die für die Abwehr von neuartigen hypersonischen Bedrohungen erforderlichen Fähigkeiten einbringen. Arrow 3 ist dann als Bestandteil eines Gesamtsystems in Betracht zu ziehen sein, das neben Patriot PAC-3 auch das bodengebundene Luftverteidigungssystem für die mittlere Reichweite IRIS-T SLM mit einschließt. Mit der deutschen Beschaffungsentscheidung (vom 14. Juni 2023) wird eine bestehende Fähigkeitslücke im Bereich der bodengebundenen Luftverteidigung bei der Bundeswehr geschlossen und eine Stärkung der Landes- und Bündnisverteidigung erreicht. Die Beschaffung von IRIS-T SLM markiert für Deutschland den Auftakt der European Sky Shield Initiative. Erst vor kurzem hat Diehl Defence mit einem navalisierten Systemdemonstrator des bodengebundenen Luftverteidigungssystems IRIS-T SLM den Nachweis erbracht, dass das Waffensystem auch von seegehenden Einheiten für Luftverteidigungsanwendungen im Kurz- bis Mittelbereich eingesetzt werden kann.

 

Vom Habitus einer starken Luftverteidigung

Die Bedeutung einer bedrohungsgerechten Luftverteidigung am Boden wächst mit dem Grad der Risiken durch weitreichende Angriffswaffen. Damit sind ballistische Mittel- und Langstreckenraketen (TBMs), Marschflugkörper und neuerdings Hyperschallwaffen gemeint. Das Gefährdungspotenzial durch weitreichende ballistische Flugkörper – mit Reichweiten zwischen 2.000 bis über 5.500 Kilometer – wird als immens eingeschätzt. Derzeit verfügen die europäischen Nato-Staaten, abgesehen von der eingeschränkten Bekämpfung von konventionellen Luftzielen in der unteren Abfangschicht (bemannte/unbemannte Luftfahrzeuge, Anti-Radar-Lenkflugkörper, tieffliegende Marschflugkörper) durch Abwehrsysteme wie SAMP-T (sol-air moyenne portée/terrestre) in Frankreich und Italien sowie Patriot PAC-3/PAC-3 MSE (Deutschland, Griechenland, Niederlande, Polen, Rumänien, Schweden), über keine hinreichende Befähigung zur Bekämpfung von Langstreckenraketen. Polen, das im April 2024 der European Sky Shield Initiative beigetreten ist, hat mit dem Ersatz seiner passiven Patriot-Multifunktionsradare durch ein AESA-Radar (Raytheon) begonnen. Dieses auch als Lower Tier Air and Missile Defense System (LTAMDS) bezeichnete Radar offeriert eine 360 Grad-Abdeckung und eine wesentlich größere Erfassungsreichweite gegen hyperschnelle und manövrierende Luftbedrohungen mit kleinen Radarquerschnitten. LTAMDS, für das integrierte Luft- und Raketenabwehrsystem der US-Armee konzipiert, bleibt mit bestehenden Patriot-Systeminvestitionen kompatibel.

Endphasensysteme wie PAC-3 MSE (Missile Segment Enhancement) – als die zweite Serienversion der PAC-3 – verfügen über ein beträchtliches Abwehrpotenzial, wenn deren Bodenradar präzise genug eingewiesen wird. Als ein wichtiger Baustein eines künftigen europäischen Luftverteidigungs- und Raketenabwehrsystems leistet PAC-3 MSE unverzichtbare Beiträge bei der Bekämpfung von ballistischen, manövrierenden und hyperschallschnellen Offensivwaffen. Der Bedarf an PAC-3 MSE (in den USA und bei bislang vier europäischen Verbündeten) hat sich im Kontext der aktuellen Bedrohungen durch Russland erhöht. Aus diesem Grund wollen Diehl Defence und Lockheed Martin Missiles and Fire Control bei der Weiterentwicklung und Stärkung der integrierten Luft- und Flugkörperabwehr in Europa zusammenarbeiten. PAC-3 MSE ist so ausgelegt, dass es gemäß der „Hit-to-Kill“ (HTK)-Technologie einen Direkttreffer an einem anfliegenden Ziel herbeiführt. Mit künstlicher Intelligenz (KI) und Machine Learning (ML) versucht man, Entscheidungsprozesse zu beschleunigen und Feuerleit- und Gefechtsführungsfunktionen zu vereinfachen.

Bleibt noch die Gefahr durch Hyperschallwaffen. Die Proliferation von Technologien für hyperschallschnelle Angriffswaffen wird insbesondere durch Russland vorangetrieben. Russland hat seine Anstrengungen seit der Annexion der Krim (im März 2014) durch eine Reihe von Neuentwicklungen verstärkt; einige dieser Waffensysteme werden seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch eingesetzt. Ein von Kampfflugzeugen eingesetztes Waffensystem – Kinzhal – soll bereits vor Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine auf dem Territorium von Belarus stationiert worden sein. Die Weiterentwicklung hypersonischer Waffensysteme schreitet somit weiter voran. So haben China und Russland hypersonische Gleitflugkörper (Hypersonic Glide Vehicles; HGVs) entwickelt und inzwischen in die Einsatzbereitschaft genommen. Hierbei handelt es sich um Waffensysteme, mit denen Angriffe mit hoher Präzision über sehr große Distanzen durchgeführt werden können. Nato und EU sind sich darüber bewusst, dass die Robustheit der militärischen Maßnahmen Russlands insbesondere auf dem Gebiet von Mittel- und Langstreckenraketen rasch voranschreitet. Dies schließt auch die seit mehreren Jahren beobachtbaren Fortschritte bei der Entwicklung und der Stationierung von solchen Hyperschallwaffen ein, die als bodengestartete Offensivwaffen über sehr große Distanzen eingesetzt werden können.

 

Mehr Tempo bei der Raketenabwehr

Bei dem von Deutschland nunmehr beschafften israelischen Raketenabwehrsystem Arrow 3 handelt es sich um ein exoatmosphärisches Abwehrsystem, das in einer Abhaltehöhe bis 100 Kilometer gegen Langstreckenraketen wirksam ist. Der Abwehrflugkörper bekämpft anfliegende Raketen durch einen direkten Treffer („Catastrophic Kill“). Nur so kann eine sichere Zerstörung des Gefechtskopfes sichergestellt werden. Erste Anteile dieses Abwehrsystems sollen noch in diesem Jahr in Brandenburg (Holzdorf) stationiert werden. Zwei weitere Stationierungsstandorte befinden sich in Nord- und Süddeutschland.

Bei der Bekämpfung durch einen „Catastrophic Kill“-Treffer in der geforderten Abhaltehöhe muss allerdings sichergestellt werden, dass Kollateralschäden am Boden – etwa durch Submunitionen – weitestgehend vermieden werden. Problematisch sind die zunehmend kleiner werdenden letalen (verwundbaren) Bereiche neu entwickelter ballistischer Flugkörper, also jene Bereiche, die die Flugkörperelektronik und den Gefechtskopf umfassen. Eine technologische Herausforderung ist, die für „Upper Layer“-Systeme wie Arrow 3 entwickelten Weitbereichs-Bodenradare, die in der Suchstrategie sehr viel flexibler sein dürften als frühere Systeme und Bedrohungen in einem vorgegebenen Sektor auf sehr große Distanzen zu orten vermögen, im Zusammenwirken mit luft- oder raumgestützten Infrarot-Überwachungssensoren einzusetzen. Erst dadurch kann sichergestellt werden, dass mögliche Starts von Flugkörpern oder aber ihre Aufstiegsphase auf große Entfernungsreichweiten detektiert werden können. Aufgrund der extrem kurzen Reaktionszeiten, innerhalb welcher diese Luftbedrohungen bekämpft werden müssen, ergeben sich besondere Anforderungen an die Sensorausstattung mit sowohl aktiven und passiven Radarsensoren als auch passiven elektro-optischen Sensoren.

 

Resümee

Eines der zentralen Themen in der europäischen Sicherheitspolitik ist die militärische Fähigkeit einer glaubwürdigen Luftverteidigung und Raketenabwehr. In den letzten Jahren wurden erhebliche finanzielle Mittel in die Entwicklung von hochspeziellen Effektoren und dazugehöriger Sensorik investiert, mit deren Hilfe eine Abwehr von weitreichenden hypersonischen Bedrohungen ermöglicht werden soll. Ein Beispiel ist das Vorhaben HYDEF (Hypersonic Defence), das – unter der Führung der europäischen Rüstungsmanagement-Organisation OCCAR-EA – die Entwicklung eines Gesamtsystems vorsieht, das zur Abwehr von hypersonischen Bedrohungen befähigt ist. Dies geschieht mithilfe eines Verbundes aus verschiedenen, teils weltraumgestützten Sensoren und eines Interceptor-Systems, das auf Basis möglichst vorhandener BMD-Führungssysteme der Nato eingesetzt werden wird. HYDEF steht in enger Verbindung zum PESCO EU-Projekt „Timely Warning and Interception with Space-based Theater surveillance“ (TWISTER) und befasst sich mit der Entwicklung eines endo-atmosphärischen Interceptor-Gesamtkonzeptes zur Luftverteidigung. Hypersonische Bedrohungen gelten deshalb als ausgesprochen kritisch, weil diese durch die derzeit entwickelten Abwehrsysteme kaum oder nicht entdeckt werden können und im Verdacht stehen, jedes heute entwickelte Raketenabwehrsystem zu durchbrechen.

Stefan Nitschke

 

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