Annette Lehnigk-Emden (Foto: BAAINBw/Thomas Scheibe)

Interview: Annette Lehnigk-Emden, Präsidentin des Bundesamtes für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw)

Stefan Nitschke

Wenn sich die deutsche Wirtschaft in einer Konjunktur-Krise befindet und wichtige Industriebranchen wie der Automobilbau eine Verschlechterung ihrer Wettbewerbssituation hinnehmen müssen, bemerkt man in der deutschen Verteidigungsindustrie eine allmähliche Hochskalierung ihrer Produktionskapazitäten. Denn die Landesverteidigung ist ein Thema. Kurz nach Redaktionsschluss (am 25. November) dauerte der Krieg in der Ukraine bereits 33 Monate an. Ungebrochen. Wladimir Putins Angriff auf das westliche Nachbarland hat die Sicherheitsarchitektur in Europa maßgeblich verändert. Das nimmt erheblichen Einfluss auf die Anstrengungen Deutschlands, seine Streitkräfte verteidigungsfähig – kriegstüchtig – zu machen. Das ist Fakt. Die Präsidentin des Koblenzer BAAINBw, Frau Annette Lehnigk-Emden, benennt eine lange Liste von Projekten, die der Bundeswehr zu neuem Schwung verhelfen sollen. Sie hebt im wt-Interview heraus, dass alleine im vergangenen Jahr rund 12.100 Beschaffungsverträge geschlossen wurden. Bei genauem Hinsehen erkennt man in einigen Bereichen sogar erste Auflösungserscheinungen bei erkannten Fähigkeitsdefiziten. Diese Anfangserfolge einer konsequenten Umsetzungsstrategie der Behörde – unter der Führung ihrer Präsidentin – sind dank eines annähernd konstanten Personalkörpers spürbar. Sie lesen das Interview in gekürzter Form. Das ganze illustrierte Interview haben wir in der Jahresendausgabe wt VI/2024 veröffentlicht.

 

wt: Frau Präsidentin, das Jahr 2024 nähert sich langsam seinem Ende. Zu vernehmen war im dritten Kriegsjahr (Ukraine) ein „Wechselbad der Gefühle“, was die Ausstattung der Bundeswehr anbelangt. Wie ist es um die Truppe bestellt?

Annette Lehnigk-Emden: Unser Amt ist im Rahmen der Herstellung der Kriegstüchtigkeit mit den stetig zunehmenden Anforderungen durch die Umsetzung des Sondervermögens, den Materialabgaben an die Ukraine sowie der Aufstellung der Brigade Litauen gefordert. Dabei erzielen wir gute Ergebnisse und haben den Wachstumspfad der verausgabten Haushaltsmittel bei annähernd konstantem Personalkörper konsequent fortgesetzt. Die für Rüstung verausgabten Haushaltsmittel in Höhe von 23,6 Mrd. Euro im Jahr 2023 werden wir dieses Jahr nochmal deutlich übertreffen. Alleine im vergangenen Jahr wurden rund 12.100 Beschaffungsverträge geschlossen. Auch die Anzahl der 25-Mio.-Euro-Vorlagen an das Parlament zu Großverträgen wächst kontinuierlich und erreichte im Jahr 2023 mit rund 55 einen Höchststand. In diesem Jahr wird diese Zahl nochmal deutlich übertroffen werden.

Ich verweise an dieser Stelle aber ausdrücklich auch auf die vielen „kleineren“ Projekte, die unser Amt umgesetzt hat und welche für die Verbesserung der Einsatzbereitschaft zwingend notwendig sind. Zur Verbesserung der Mobilität wurden der Truppe bisher 30 neue Sattelzugmaschinen, 28 Anhänger sowie 29 geschützte Transportfahrzeuge 15t zur Verfügung gestellt. Auch die erste Lieferung des Systems IRIS-T SLM erfolgte planmäßig im August 2024. Bei der Fahrzeugfamilie Wechselladersysteme wurde am 11. Juni 2024 ein Vertrag über 1.515 Stück geschlossen. Für die Verbesserung der sanitätsdienstlichen Versorgung wurden acht leichte Luftlanderettungszentren, drei geschützte Verwundetentransport-Container sowie 38 Lkw Patiententransport beschafft.

Aus dem Sondervermögen werden in 2025 große Stückzahlen an weiteren Bildlichtverstärkerbrillen, Gefechtshelmen und verschiedenen Präzisionsbomben für das Kampfflugzeug F-35 beschafft. Diese werden durch weitere Luftfahrzeuge P-8A Poseidon ergänzt. Die Realisierung der Aufgaben zur nationalen territorialen Flugkörperabwehr wird über eine Anfangsbefähigung im Jahr 2025 durch das Luftverteidigungssystem Arrow sichergestellt. Diese Systeme stellen jedoch nur einen kleinen Auszug aus den Beschaffungen dar.

Ich kann Ihnen versichern, dass alle Mitarbeitenden intensiv an der Realisierung der Projekte arbeiten und wir so die materielle Einsatzbereitschaft unserer Soldatinnen und Soldaten signifikant steigern.

 

wt: Wichtige Beschaffungsinitiativen wie IRIS-T SLM kommen nunmehr in die Realisierungsphase. Die Luftwaffe hat mit dem Abschluss der Ausbildung des ersten Bedienpersonals die initiale Einsatzbereitschaft erreicht. Was sind die nächsten Schritte?

Annette Lehnigk-Emden: Die erste Feuereinheit IRIS-T SLM wurde 15 Monate nach Vertragsschluss Anfang August an die Bundeswehr ausgeliefert. Diese Feuereinheit ist nicht vergleichbar mit der Feuereinheit, die tagtäglich in der Ukraine eingesetzt wird, da die Bundeswehr andere Vorgaben und Anforderungen berücksichtigen muss und die Luftverteidigungseinheiten auch in die Nato eingebunden werden müssen. Diese Dinge werden aktuell qualifiziert. Außerdem werden die Teilsystemkomponenten der Feuereinheit durch den Nutzer auf die operationellen Dinge hin geprüft. Derzeit ist geplant, dass eine Feuereinheit das Waffensystem LeFlaSys in der Brigade Litauen ab 2027 ablösen wird. Dem steht aus heutiger Sicht nichts entgegen.

 

wt: Ich greife jedoch die vielerorts aus der Truppe zu vernehmende Kritik über das Fehlen von Counter-Drone-Kapazitäten auf. Ist die Bundeswehr insgesamt nicht zu spät dran?

Annette Lehnigk-Emden: Das BAAINBw hatte bereits lange vor der „Zeitenwende“ erste Abwehrsysteme für die Auslandseinsätze beschafft. Seither ist die Vielfalt der in der Bundeswehr genutzten Produkte immer weiter gestiegen und die Stückzahlen erhöhen sich laufend. Der Bundeswehr stehen verlegefähige Systeme zum Schutz von Feldlagern, tragbare Detektionsgeräte und Jammer zur Verfügung. Wir beschaffen auch Zielassistenzsysteme für Handwaffen, die die direkte Bekämpfung von Kleindrohnen erleichtern werden.

Das BAAINBw leistet auch einen Beitrag zur Sicherheit im Inland: Unsere wichtigsten Standorte verfügen über Systeme, um gegen dort unbefugt einfliegende Kleindrohnen vorzugehen. Während wir dieses Interview führen, werden weitere Abwehrsysteme aufgebaut.

Ich denke, dass wir im BAAINBw die Zeichen der Zeit erkannt haben. Wir haben letztes Jahr ein zusätzliches Projektreferat eingerichtet, was sich schwerpunktmäßig nur um Systeme zur Abwehr der mittlerweile überall erhältlichen Kleindrohnen kümmert. Die verantwortlichen Projektleiterinnen und Projektleiter beschaffen, was der Verteidigungshaushalt hergibt. Jetzt gilt es, dass sich die Truppe an allen Standorten im In- und Ausland mit den neuen Produkten vertraut macht, übt und ihre Anforderungen an künftiges Gerät verfeinert. Um die zum Teil noch vorhandenen Restpunkte und Auflagen bei den schon eingeführten Produkten werden wir uns mit den zuständigen Zulassungsbehörden kümmern.

 

wt: Das BMVg hat am 24. Juli seinen 19. Bericht zu Rüstungsangelegenheiten veröffentlicht und hierin Fortschritte, Verspätungen und Kostenüberschreitungen bei den 17 wichtigsten Beschaffungsprogrammen aufgezeigt. Über die Zukunft des einst so hoch gelobten Tiger-Kampfhubschraubers ist nach der Entscheidung über den Leichten Kampfhubschrauber (LKH) nichts zu lesen. Der LKH wird bei der Truppe allerdings höchst differenziert betrachtet. Wie beurteilen Sie diese wichtige Beschaffungsinitiative?

Annette Lehnigk-Emden: Bei dem Begriff „Leichter Kampfhubschrauber“ (LKH) handelt es sich um ein Beschaffungsprojekt der Bundeswehr mit der offiziellen Bezeichnung „Produktfamilie Leichter Kampfhubschrauber“. Ziel ist die Realisierung bzw. Sicherstellung einer bodennahen Luftunterstützung auf dem Gefechtsfeld. Bei der Beschaffung greifen wir dabei bewusst auf einen markverfügbaren Hubschraubertyp [von] Airbus Helicopters mit der Herstellerbezeichnung H145M sowie militärischer marktverfügbarer „State-of-the-Art“-Komponenten zurück. Im Rahmen einer Brückenlösung wird der H145M als Leichter Kampfhubschrauber den aktuell genutzten Kampfhubschrauber Tiger teilweise ablösen. Der LKH ist damit ein gelebtes Beispiel der Zeitwende: Maßgeblich ist der Faktor Zeit.

 

wt: Das Projekt P-8A Poseidon sollte die Rüstungszusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten weiter vertiefen. Der Seefernaufklärer wird als Interimslösung beschafft. Was bedeutet das für das deutsch-französische Gemeinschaftsprojekt eines gemeinsamen Seefernaufklärers (MAWS) und für die dann bei der Truppe bereits mehrere Jahre eingesetzte Flotte aus Poseidon-Aufklärern?

Annette Lehnigk-Emden: Diese Beschaffung der acht P-8A Poseidon dient dem zwingend erforderlichen bruchfreien Fähigkeitserhalt zur Seefernaufklärung und der weiträumigen, luftgestützten Uboot-Jagd. Denn nach Beendigung der Modernisierungsmaßnahmen und der daraus resultierenden Außerdienststellung an der P-3C Orion drohte der Bundeswehr eine Fähigkeitslücke, die – auch mit Blick auf die Sicherheitslage – nicht hingenommen werden konnte. Aus diesem Grund führte die Bundeswehr eine Marktsichtung durch, welche alle marktverfügbaren Plattformen einbezog. Diese Analyse berücksichtigte neben der operationellen Bedarfsdeckung auch alle Wechselwirkungen auf das deutsch-französische Kooperationsvorhaben Maritime Airborne Warfare System (MAWS).

 

wt: Ein jetzt voller Erwartung weiter Fahrt aufnehmendes Beispiel der transatlantischen Kooperation ist die Fregatte F127. Sie soll ab Mitte der 2030er Jahre vorhandene Kapazitäten ersetzen und dank ihres fortschrittlichen Designs eine beträchtliche Stärkung maritimer Fähigkeiten herstellen. Ein nationaler Schiffsentwurf mit einem „aufgesetzten“ US-amerikanischen (Kampf)System wird Realität. Trifft das zu?

Annette Lehnigk-Emden: Wir stärken bereits die maritimen Fähigkeiten in allen Bereichen, von Ubooten und Flottendienstbooten über Korvetten, Fregatten mit Neubau- und Modernisierungsprogrammen bis hin zu Fähigkeiten zur Minenabwehr, Spezialkräftebooten und Schleppern. Daher ist es logisch, dass der Blick auch in die weitere Zukunft geht, die wir jetzt gestalten müssen. Der bruchfreie Fähigkeitserhalt im Bereich seegestützter Verbandsflugabwehrfähigkeiten sowie die Erweiterung zur Abwehr von ballistischen und Überschall-Flugkörpern erfordert einen zeitnahen Projektbeginn F127. Ein Zulauf der Schiffe ist ab 2034 vorgesehen. Der nationale Schiffbau wird in Kombination mit einem US-Einsatzsystem bisher einzigartige seegestützte Fähigkeiten für Deutschland zur Verfügung stellen und bietet darüber hinaus auch Kooperationsmöglichkeiten mit europäischen Partnern.

 

wt: Was bleibt, ist auch eine weitere Intensivierung der europäischen Rüstungszusammenarbeit. Sie werden politisch gefordert, aber sie haben ihre eigenen Tücken. Ein Beispiel ist das zukünftige Bodenkampfsystem MGCS. Wie kann das BAAINBw mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung bei europäischen Rüstungsprogrammen mögliche Problemstellungen gegenüber der Politik effektiv kommunizieren?

Annette Lehnigk-Emden: Die Kommunikation ist durchaus transparent und effektiv. Die Herausforderungen ergeben sich vielmehr aus den unterschiedlichen Interessensgruppen, die zu berücksichtigen sind. Sicherheitspolitisch und finanzpolitisch ist eine Intensivierung der europäischen Rüstungszusammenarbeit alternativlos. Der europäischen Bevölkerung wäre es sicher nicht zu vermitteln, wenn die damit verbundene Bündelung von Ressourcen und Schaffung von Synergien unberücksichtigt bliebe. In der Praxis beginnen die Herausforderungen dann bereits bei der detaillierten Ausarbeitung und Abstimmung der gemeinsamen Programme. Eine gute Kooperation setzt ein gemeinsames Ziel und Interesse, Vertrauen und die Bereitschaft der Abgabe von Kontrolle in der Projektdurchführung voraus. Dieses Bewusstsein ist durchgängig vorhanden. Dennoch treten hier aufgrund der unterschiedlichen heterogenen Prinzipien der nationalen Rüstungssysteme in Europa regelmäßig ungleiche Interpretationen mit abweichenden Erwartungen auf. Daher gilt es, auch die deutschen Interessen nachdrücklich zu vertreten und hartnäckig „am Ball zu bleiben“, um mittelfristig Erfolge im Projekt zu erzielen.

Das BAAINBw verfügt über sämtliche Kompetenzen, die zur Umsetzung komplexer, auch internationaler Rüstungsprojekte erforderlich sind: angefangen von der Fachtechnik in den verschiedenen Disziplinen, über die vertragliche Umsetzung bis hin zur Wirtschaftlichkeit und dem übergreifenden Projektmanagement. Für MGCS wären hier aus technischer Sicht ein größeres Kaliber der Hauptbewaffnung und ein verbesserter Schutz des Gesamtsystems, z. B. durch eine verbesserte Reaktivpanzerung, exemplarisch zu nennen. Unsere Fachleute zielen zudem darauf, das Höchstgewicht der Plattform zu senken und damit die Mobilität zu verbessern. Auch übergreifende Aspekte, wie z. B. die Gewährleistung größtmöglicher Kommunalitäten. sind zu berücksichtigen, um so bspw. ein einheitliches Fahrwerk für eine ganze Fahrzeugfamilie zu realisieren.

 

Interview: Stefan Nitschke

 

Annette Lehnigk-Emden: „Im Rahmen einer Brückenlösung wird der H145M (hier bei der Übergabe des ersten Luftfahrzeugs an die Bundeswehr in Donauwörth am 18. November) als Leichter Kampfhubschrauber den aktuell genutzten Kampfhubschrauber Tiger teilweise ablösen.“ (Foto: Bundeswehr/Rolf Klatt)
Annette Lehnigk-Emden: „Im Rahmen einer Brückenlösung wird der H145M (hier bei der Übergabe des ersten Luftfahrzeugs an die Bundeswehr in Donauwörth am 18. November) als Leichter Kampfhubschrauber den aktuell genutzten Kampfhubschrauber Tiger teilweise ablösen.“ (Foto: Bundeswehr/Rolf Klatt)

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