Die Schweiz und das Milizsystem: Eine Armee für alle

apf

02/08/2021

Die Schweiz ist ein Land, das seit den napoleonischen Kriegen mit keinem anderen Staat mehr im Krieg war und seit dem Sonderbundskrieg von 1847, einem Bürgerkrieg, keine militärische Auseinandersetzung auf seinem Territorium mehr hatte.

Für einen zentral zwischen Frankreich, Italien und Deutschland gelegenen Klein- und Binnenstaat mit nur 7,21 Millionen Einwohnern ist das, wenn man die Geschichte des 20. Jahrhunderts bedenkt, eine beachtliche Leistung.

Die Schweizer selbst erklären das zum einen mit ihrer selbstauferlegten Neutralität, welche sie aus Bündnisverpflichtungen und Konflikten heraushält, der geographischen Beschaffenheit des eidesgenossenschaftlichen Territoriums und nicht zuletzt durch die Milizpflicht, welche, zumindest theoretisch, aus jedem erwachsenen und männlichen Schweizer einen Soldaten und Staatsdiener macht.

Das Milizsystem ist ein Pfeiler der Schweizer Identität. Und mit ihm die Milizarmee mit dem Militärdienst. Die Idee der Miliz ist leicht erklärt, aber eigentlich doch etwas komplizierter als der erste Anschein täuschen mag: Jeder Schweizer Bürger geht einem zivilen, privaten Hauptberuf nach, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdient, daneben leistet er in Nebentätigkeit einen Staats- oder Gesellschaftsdienst. Dies kann beispielsweise in der Armee, den Parlamenten, der Feuerwehr, den Gemeinden und Kirchen und in der Pflege von Alten und Kranken sein.

So hat die Schweiz zwar ein Militär mit de facto über 140.000 Soldatinnen und Soldaten, davon sind jedoch lediglich knapp über 3.000 sogenannte Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere, also hauptberuflich militärisches Personal. Die übrigen ca. 40.000 Offiziere und Unteroffiziere sind sogenannte Milizoffiziere und Milizunteroffiziere. Auch unter Einbeziehung der Soldaten auf Zeit, ein Modell, das vergleichbar dem deutschen SaZ-System ist, sind insgesamt 95% des aktiven schweizerischen Militärs wehrdienstleistende Milizionäre.

(Foto: Schweizer Armee/Philipp Schmidli)

Doch wie funktioniert dieses System tatsächlich und wieso ist es so identitätsstiftend?

Die Schweiz ist, wie bereits Anfangs erwähnt, ein Staat mit 7,214 Millionen Einwohnern, der zentral zwischen Mittel- und Westeuropa gelegen ist. Vier Sprachgruppen, zwei große Konfessionen, eine durch geographische Faktoren bestimmte demographische Zersplitterung entlang der Täler und Tiefebenen und eine vielfältige politische Kulturenlandschaft machen die Schweiz zu einem der diversesten Länder Europas.

Hinzu kommt auch, dass mittlerweile 13% der schweizerischen Staatsbürger einen Migrationshintergrund haben. Unter den 15 bis 24-jährigen sind es sogar fast 20%.

Eingebürgerte Schweizerinnen und Schweizer sind ein schnell wachsender Teil der Armee. Deren Integrationskraft und Ansehen ist gerade unter sogenannten „Secondos“ und „Secondas“ groß. Jeder dritte Rekrut hat mindestens einen ausländischen Elternteil.

Durch das Milizsystem entsteht eine Bindung der Gesellschaft an den Staat. So wird zwar versucht, die Milizionäre in ihrem Grundwehrdienst in möglichst sprachlich homogenen Gruppen zu vereinen, was jedoch nicht immer möglich ist. So finden sich immer wieder Einheiten, in denen beispielsweise eine Mehrheit Deutsch spricht aber ein kleiner, doch beachtlicher, Anteil französischsprachiger Eidesgenossen dient. Jetzt mag man denken, dass dies zu schweren Kommunikationsproblemen führt. Erfahrungsberichte und Untersuchungen der ETH Zürich zeigen aber, dass dies nicht der Fall ist. Schweizer Schüler lernen abgesehen von ihrer Kantonssprache in der Regel auch mindestens eine weitere der drei großen schweizer Landessprachen. Darüber hinaus bildet sich im gemeinsamen Ausbildungs- und Dienstalltag oft ein gemeinsames Grundverständnis der Befehlssprache. Von Unteroffizieren und Offizieren wird außerdem erwartet, dass sie mindestens zwei Landessprachen fließend sprechen.

Untersuchungen der schweizer Militärakademie zufolge hat der Militärdienst eine integrative Fähigkeit für die verschiedenen Gesellschaftsmilieus des Landes. Der Militärdienst fungiert also nach dem bekannten Modell als „Schule der Nation“.

Dies spiegelt sich auch in anderen Untersuchungen wider. Die Studie „Sicherheit 2021“, durchgeführt von der Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich und dem Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, belegt, dass 58% der Bevölkerung die Milizarmee befürworten. Die Zustimmung für das Milizsystem ist höher als das für eine Berufsarmee aus Freiwilligen (2021: 38%). Auch die Idee des Diensts an der Gesellschaft für alle mit freier Wahl zwischen Militär-, Zivil- oder Sozialdienst wird breit unterstützt.

Trotz dieses breiten Rückhalts in der Bevölkerung wird in jüngster Zeit Kritik am militärischen Milizsystem laut. Denn trotz der Möglichkeit als Freiwillige zu dienen, sind Frauen von der Milizpflicht bisher ausgenommen.

Die Schweizerische Offiziersgesellschaft hat deswegen Anfang Juli 2021 einen öffentlichen Aufruf gestartet, dies zu ändern.

Dies führte zu einer größeren Diskussion in den eidgenössischen Medien und der schweizerischen Zivilgesellschaft.

Ähnlich wie in Deutschland vor der Aussetzung der Wehrpflicht gab es auch in der Schweiz schon des Öfteren Diskussionen über die Wehrgerechtigkeit.

Unterstützer der Vorstoßes argumentieren neben der Grundlage der Emanzipation auch über die gesellschaftliche Teilhabe und den integrativen Faktor des Wehrdienstes.

Das Milizsystem ist ein integrativer Faktor im Sinne des gemeinschaftlichen und freiheitlichen Zusammenlebens in der Schweiz. (Foto: Schweizer Armee/Philipp Schmidli; Yves Baum)

Der integrative Faktor des Milizdienstes ist etwas, womit sich die Armee der Schweiz selbst rühmt. So heißt es auf dem Onlineauftritt des Militärs: „In der Schweizer Armee sind Frauen und Männer unterschiedlicher Herkunft, Sprache, Religion, Sexualität oder mit unterschiedlichen Bräuchen engagiert. Da sie ein Abbild der Gesellschaft ist, will die Armee offen sein für alle.“

Das verstärkte Bewusstsein für das Thema lässt sich auch auf Armee-Ebene beobachten, wo versucht wird, das Potenzial aller Armeeangehörigen zu berücksichtigen und einzubeziehen, damit jede Frau und jeder Mann als vollwertiges Armeemitglied betrachtet wird. Diversität geht demnach mit Integration einher.

Die Armeeführung der Schweiz hat die Einbeziehung der verschiedenen Bevölkerungsteile als Potenzial erkannt, das es zu nutzen gilt.

Die Führungskader des schweizerischen Militärs wollen das Potenzial des heterogenen Landes voll ausnutzen, denn es spielt nach eigener Angabe des eidgenössischen Armeekaders eine wesentliche Rolle für die langfristige Tragfähigkeit der Armee und deren Attraktivität gegenüber der Bevölkerung.

Von diesem Selbstverständnis lassen sich auch Lektionen für andere Militärs, unter anderem die Bundeswehr, ziehen. Da die Militärangehörigen das Fundament der Streitkräfte darstellen, sollten Diversität und Inklusion die Grundpfeiler für die Funktionsfähigkeit des Militärs und die Förderung der Kameradschaft bilden. Diversität sollte als Chance gesehen werden: Wenn jeder Mensch er selbst sein kann, akzeptiert wird und mit den Anderen verbunden ist, oder frei nach dem alten Fritz „Jeder […] nach seiner Fasson selig werden“ kann, resultiert für die Armee und für ihre Angehörigen ein Mehrwert. Nicht nur durch eine motivierte Truppe, sondern auch durch eine höhere Akzeptanz in der Gesellschaft.

Ein Teil des Milizsystems ist es auch, dass ein jeder sich für die Sicherheit und Freiheit der Schweiz einsetzt. Ein jeder Schweizer hat einen direkten Anteil an der Sicherheit des Landes. (Foto: Schweizer Arme/Ueli Liechti)

Autor: Frederik Ströhlein

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