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„AN DEN HERAUSFORDERUNGEN GEWACHSEN“

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Interview mit Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner, Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr

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„Der Aufgabenbereich ist weit gefächert und wir hatten und haben immer noch alle Hände voll zu tun.“

Der Sanitätsdienst der Bundeswehr (SanDstBw) zeigt sich in der aktuellen COVID-19-Pandemie als ein gut aufgestellter und an den Herausforderungen gewachsener Organisationsbereich. Der Inspekteur des Sanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner, greift im Gespräch mit wt die hohe Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit des SanDstBw auf, die in der aktuellen Gesundheitslage das Selbstbewusstsein als militärischer Organisationsbereich gestärkt haben. Gewiss lehren die derzeit großen Kraftanstrengungen, u.a. der Einsatz bei der Bewältigung der Corona-Pandemie in Portugal, dass Einschränkungen immer in Betracht zu ziehen sind – personell wie materiell. Die Ressource Personal – schnell einsetzbare Kräfte mit fachlich medizinischen Fähigkeiten – entwickelt sich hier aber zu einer tragenden Säule. Der Generalarzt beschreibt sie als Grundvoraussetzung dafür, um die zum Teil sehr komplexen Einsatzaufgaben im zweiten Jahr der Krise bewältigen zu können.

wt: Die aktuelle Corona-Pandemie schuf für den Sanitätsdienst der Bundeswehr eine bis dahin nicht gekannte neue Lage. Wie haben Sie persönlich, Herr Generalarzt, den Verlauf der Pandemie in Erinnerung behalten?

Dr. Baumgärtner: Eigentlich sind wir ja noch mitten in der Pandemie. Für mich und genauso für alle meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sanitätsdienst ist dies eine ganz besondere Herausforderung. Auch wenn wir als Fachdienst auf vergleichbare Aufgaben grundsätzlich ausgerichtet sind, also der Umgang mit Massenerkrankungen „Teil unserer DNA“ ist, bedeutet die SARS-CoV2-Pandemie besonders durch ihr Ausmaß eine große Kraftanstrengung. Durch die ressortgemeinsame Arbeit und die tiefe Verzahnung mit dem zivilen Gesundheitswesen ist es uns aber gelungen, recht schnell geeignete Maßnahmen zu entwickeln. Neben der aktiven medizinischen Arbeit am Menschen, konnten wir die Truppe dabei unterstützen, unter angepassten Arbeitsbedingungen ihre Aufgaben in der Pandemie so gut wie möglich wahrzunehmen.

Streitkräfte müssen handlungsfähig bleiben, der Schutz der Soldatinnen und Soldaten vor der Erkrankung ist dabei allerdings ein hohes Gut. Das ist übrigens auch ein Grundelement des Konzepts Innere Führung. Aber: Nicht alle Aufgaben sind dann gleich wichtig in einer solchen Situation. Letzteres mussten wir alle miteinander lernen.

Was vielleicht auch deutlich wird: Militärischer Sanitätsdienst mit all seinen Fähigkeiten auf den Feldern der Gesundheitsversorgung ist dann auch Teil der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge in einem hybriden Szenario, in dem wir dann gleichzeitig zur Unterstützung der laufenden Einsätze unseren Beitrag in den Herausforderungen in Deutschland leisten. Diese Fähigkeiten können dann auch in der Versorgung der Bevölkerung wertvolle Unterstützung leisten. Das findet seinen Ausdruck in der Ausrichtung unserer Bundeswehrkrankenhäuser auf die Pandemie, in dem wir beispielsweise zusätzliche Intensivkapazitäten geschaffen haben oder auch regional koordinierende Aufgaben in der Zusammenarbeit mit anderen Krankenhäusern übernehmen. Das zeigt sich auch in den Arbeiten des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr [InstMikroBioBw] in München zur Diagnostik und Sequenzierung des COVID-19-Virus und in seinen Beiträgen an der fachlich fundierten Beratung von Entscheidungsträgern. Und das findet auch seinen Ausdruck in Intensivtransporten, dem Einsatz von medizinischem Personal in Alten- und Pflegeheimen oder bei der tatkräftigen fachlichen Unterstützung in Gesundheitsämtern, die wir nicht nur aus unserem eigenen öffentlich-rechtlichen Gesundheitsdienst speisen. Bis zu 700 Amtshilfeanträge im Zusammenhang mit der Pandemie wurden allein vom Sanitätsdienst unterstützt; die Männer und Frauen des SanDstBw haben mit ihrer Expertise in den letzten Monaten einen großen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie geleistet.

Wir führen diese Unterstützung mit der aktuellen Impfkampagne fort, wo wir jetzt vermehrt auf das Personal unserer Versorgungszentren in der Fläche zurückgreifen. Der Einsatz in Portugal zeigt darüber hinaus, wie wichtig schnell einsetzbare Kräfte mit fachlich medizinischen Fähigkeiten sind. Ich bin froh, dass wir im europäischen Rahmen hier Hilfe leisten können. Wir kommen damit aber schon an unsere Grenzen, denn Personal und Material müssen für solche langandauernden Lagen durchhaltefähig aufgestellt sein, denn gerade uns als SanDstBw ist es ein echtes Anliegen, mit unserer Fachlichkeit zu unterstützen.

Sie sehen, der Aufgabenbereich ist weit gefächert und wir hatten und haben immer noch alle Hände voll zu tun. Dabei sind die Sichtbarkeit und die Anschlussfähigkeit des militärischen Gesundheitssystems, seine Vernetzung mit zivilen Stellen wie dem RKI [Robert Koch-Institut], dem BMG [Bundesministerium für Gesundheit] oder auch den Landesgesundheitsbehörden in einem Austausch auf fachlicher Augenhöhe wichtig für eine an die Lage angepasste Reaktion.

„Ich wünschte mir nach den Erfahrungen mit der Pandemie für die Zukunft eine Neubewertung der Aufgaben und daraus resultierend einen deutlichen Niederschlag in der Positionierung und der Ausstattung des Sanitätsdienstes“

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Ressource Personal: Die Männer und Frauen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr haben mit ihrer Expertise in den letzten Monaten einen großen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie geleistet. Die Aufnahme von Anfang Februar zeigt den Inspekteur des Sanitätsdienstes bei der Verabschiedung der unterstützenden Sanitätskräfte vor ihrem Hilfseinsatz für das Nato-Mitglied Portugal.

wt: Gewiss sind die auf den Sanitätsdienst bezogenen Herausforderungen der Landes- und Bündnisverteidigung sowie des Internationalen Krisenmanagements – kurz IKM – in den zurückliegenden Monaten nicht in den Hintergrund getreten. Aber welche Auswirkungen hat die Bewältigung einer sehr komplexen Einsatzaufgabe wie der Umgang mit der Pandemie auf die personellen und materiellen Ressourcen Ihres Organisationsbereichs?

Dr. Baumgärtner: Im Grunde ist der SanDstBw für eine solche Aufgabe im Rahmen der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge derzeit nicht aufgestellt, sondern sehr strikt auf das Aufgabenspektrum des IKM mit den laufenden Einsätzen optimiert. Auch wenn wir, als Gesamtsystem betrachtet, im Kern das gesamte Instrumentarium des zivilen Gesundheitswesens – das heißt Patientenversorgung, Gesundheitssicherheit und Gesundheitsschutz – abgebildet haben und darüber hinaus über einige wichtige Spezialfähigkeiten für besondere Gefahrenlagen verfügen, wie z. B. unsere Institute (InstRadBioBw, InstPharmToxBw, InstMikroBioBw), hat uns die Pandemie aufgezeigt, dass wir im Hinblick auf das zukünftige Einsatzspektrum der Bundeswehr deutlich limitiert sind, was aber auch die Rolle beispielsweise als potenzielle Reserve für die Unterstützung des Bundes im Rahmen eines gesamtstaatlichen Ansatzes betrifft. Ich wünschte mir nach den Erfahrungen mit der Pandemie für die Zukunft eine Neubewertung der Aufgaben und daraus resultierend einen deutlichen Niederschlag in der Positionierung und der Ausstattung des Sanitätsdienstes.

Aber, trotz der derzeitigen Bindung nahezu des gesamten SanDstBw in der Bewältigung der aktuellen COVID-19-Pandemie und den laufenden Auslandseinsätzen konnten bis jetzt die anliegenden Aufgaben für die Streitkräfte mit noch vertretbaren Einschränkungen erfüllt werden, allerdings nur, weil Grund-, Ausbildungs- und vor allem Übungsbetrieb deutlich reduziert sind. Mit Blick auf die materiellen Ressourcen unterschieden wir uns zu Beginn der Lage nicht deutlich vom zivilen Bereich. Wir hatten mit den gleichen Herausforderungen der Beschaffung zu kämpfen. Die Materiallage stellt sich in Bezug auf die Persönliche Schutzausstattung (PSA) mittlerweile zufriedenstellend dar. Was die materielle Ausstattung betrifft, müssen wir zukünftig bessere Vorsorge treffen und reaktionsfähiger sein. Auch wenn Vorratshaltung und Eigenherstellung unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten in der Vergangenheit kritisch bewertet wurden, so ist dies unter dem Aspekt der Vorsorge und vor dem Hintergrund der starken globalen Abhängigkeiten zwingend neu zu bewerten.

Was in der Versorgung von an COVID-19 Erkrankten zusätzlich sehr deutlich wurde ist, dass adäquat vorbereitetes Fachpersonal eine entscheidende Mangelressource ist. Wir konnten unser stark beanspruchtes Personal in den Krankenhäusern z. B. recht schnell mit Soldatinnen und Soldaten aus den Regimentern und den Regionalen Sanitätseinrichtungen (RegSanEinr) unterstützen. Hier wird der Vorteil des Systemverbunds SanDstBw, dessen funktionale Einheit und der daraus resultierenden einheitlichen Fachausbildung und hohen Reaktionsfähigkeit sehr deutlich. Das gilt auch für notwendige Schwerpunktsetzungen bei militärischen Einsatzszenarien und das war ja auch ein Grund, im Jahr 2000 die Kräfte nahezu vollständig aus den Teilstreitkräften in den damals schon seit über 40 Jahren existierenden Organisationsbereich ZSanDstBw [Zentraler Sanitätsdienst der Bundeswehr] zu integrieren.

Ganz direkt gesagt: Wir sind für die Aufgaben IKM ausgerüstet, versuchen nun eine Pandemie zu bewältigen und sollen zukünftig unterschiedlichste Aufgaben IKM und LV/BV gleichrangig und gleichzeitig stemmen.

Aus meiner Sicht ist die zentralisierte Form der Ausgestaltung mit den daraus resultierenden Synergieeffekten und die entsprechende Abbildung des SanDstBw im Gesamtgefüge der Bundeswehr heute, noch mehr als im Jahr 2000, für den zukünftigen Umgang mit hybriden Szenaren im In- und Ausland die geeignete Herangehensweise, um eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung für die Bundeswehr darzustellen. Die „Polypandemie“ wie dies die Sonderausgabe des Munich Security Report zu Entwicklung, Fragilität und Konflikt in der COVID-19-Ära beschreibt, ist da aus meiner Sicht eine Blaupause. Es geht nicht nur um die Unterstützung von Kampfverbänden im Einsatz. Es geht darum, eine angemessene sanitätsdienstliche Versorgung gleichzeitig in unterschiedlichen Einsätzen bzw. Szenarien gewährleisten können, verbunden mit der Möglichkeit zur reaktionsschnellen, fachlichen Schwerpunktbildung im In- und Ausland.

wt: Den Medien, der Politik, unserer Gesellschaft wurde tagtäglich vor Augen geführt, was der Sanitätsdienst der Bundeswehr bei der Bewältigung der Corona-Pandemie zu leisten vermag. Wie beurteilen Sie das Leistungsvermögen, die Einsatzbereitschaft und Expertise Ihrer Soldatinnen und Soldaten?

Dr. Baumgärtner: Die Soldatinnen und Soldaten haben in allen Dienststellen des SanDstBw hervorragendes geleistet. Von der Entdeckung des Virus am InstMikroBioBw in München, der Rückholung deutscher Staatsbürger aus dem chinesischen Wuhan Ende Januar 2020 bis hin zur unermüdlichen Einsatzbereitschaft des Fachpersonals, das Führen der Gesundheitslage in der Bundeswehr oder der Bereitstellung von Sanitätslogistik war und ist jeder Bereich des Organisationsbereichs gefordert. Die Kombination aus Fachlichkeit, Organisationstalent mit Kreativität sowie Leistungsbereitschaft waren vorbildlich.

Der SanDstBw hat einmal mehr bewiesen, dass er mit medizinisch fachlicher Expertise an vielfältiger Stelle einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung einer solchen Krise leisten kann. In enger Zusammenarbeit mit dem BMG, dem RKI aber auch mit dem „territorialen Strang“ der Bundeswehr konnte der ZSanDstBw die gesamtstaatliche Antwort auf diese Pandemie mitgestalten. Über alle Ebenen hinweg – von der Truppe über das Bundesministerium der Verteidigung bis hin zum Bundeskanzleramt – konnte der ZSanDstBw zur Bewertung der Lagen beitragen und wurde als verlässlicher und fachlicher Berater geschätzt. Die Notwendigkeit zum ressortübergreifenden Austausch ist eine wichtige Erkenntnis aller Beteiligten. Dabei darf nie vergessen werden, dass der Sanitätsdienst der Bundeswehr nur 1% des gesamten deutschen Gesundheitssystems ausmacht. Aber genau dieser Anteil ist, wie ich bereits ausgeführt habe, derjenige, der vielleicht den Unterschied macht. Dabei ist ein Szenario unterhalb der Schwelle von LV/BV aus meiner Sicht wahrscheinlicher, möglicherweise mit einer Vielfalt von unterschiedlichen Einsätzen, hybriden Aktionen und Stabilisierungsmissionen. Die Erfahrungen in der aktuellen Pandemielage sind dabei viel wert für die weitere Ausgestaltung und Planung von Personal und Material.

Spätestens mit unserer Hilfeleistung in Portugal wird noch ein anderer Aspekt deutlich: Wir können einem in Not geratenen Land in der Europäischen Union (EU) Unterstützung anbieten. Schnell und zielgerichtet. Dies ist nur möglich, da der SanDstBw professionell ausgebildet, einsatzbereit und auf Befehl verfügbar ist. Somit eröffnet der Sanitätsdienst der Bundeswehr der Politik zusätzliche Handlungsspielräume.

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Zielgerichtete Amtshilfe: Ein Fliegerarzt im Vorgespräch mit einer zu impfenden Person im Corona-Impfzentrum am Flughafen BER in Schönefeld am 13. Januar.

wt: Bleiben wir bei den Soldatinnen und Soldaten: Schon im April 2020 hatte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer Reservisten im Sanitätsdienst dazu aufgerufen, in Bundeswehrkrankenhäusern auszuhelfen. Wie hat sich dieses Verfahren bewährt?

Dr. Baumgärtner: Für die Unterstützung durch unsere Reservedienstleistenden bin ich sehr dankbar. Sie haben gute Arbeit geleistet und sich schnell eingefügt. Die Resonanz auf unsere ersten Anfragen war sehr groß. Dem allgemeinen Aufruf zur Unterstützung des ZSanDstBw folgten über 6.000 freiwillige Meldungen. Im Ergebnis waren davon über 1.100 Meldungen für eine konkrete Tätigkeit verwertbar. Dies ermöglichte uns mehr als 600 Reservedienst Leistende, darunter Ärzte, medizinisches Pflege- und Assistenzpersonal sowie Notfallsanitäter zu Unterstützungsleistungen heranzuziehen. Entgegen des oftmals im Regelbetrieb hohen administrativen Aufwands konnte in der Pandemie die „Bürokratie“ durch unkomplizierte, vereinfachte Verfahren überwunden werden.

Gleichzeitig darf die Bereitschaft, als Reservedienst Leistender im SanDstBw zu dienen, aber nicht dazu führen, dass das im zivilen Gesundheitssystem so dringend benötigte Personal abgezogen wird. Dies haben wir insbesondere in der zweiten Welle der Pandemie gesehen, als das Krankenhausystem in Deutschland höher belastet war als im Frühjahr. Es darf keine Konkurrenz entstehen, sondern die Mangelressource Fachpersonal muss zur Bewältigung der Pandemie bestmöglich breit eingesetzt werden. Die Bundeswehr – und nicht zu vergessen die Hilfsorganisationen – stehen in der Krise in Konkurrenz um die gleichen Köpfe, die aber bereits im zivilen Beruf so dringend benötigt werden. Es zeigt sich also, dass nur ein personell gut aufgestellter SanDstBw die einzige wirkliche „stille Reserve“ in der Gesundheitslage sein kann!

wt: Im Krisenjahr 2020 erfolgte die Grundausbildung im Sanitätsdienst unter Corona-Bedingungen. Welche Rolle hat in diesem Zusammenhang die „digitale“ Grundausbildung?

Dr. Baumgärtner: Jedes Quartal werden neue Soldatinnen und Soldaten in den Regimentern des ZSanDstBw ausgebildet. Zu Beginn der Pandemie standen wir vor der Herausforderung, für die Grundausbildung Menschen aus ganz Deutschland zusammenzuziehen. Die Bedenken waren dabei hoch, das Personal in öffentlichen Verkehrsmitteln und durch die allgemeine Reisetätigkeit einer Gefahr auszusetzen. Testkapazitäten waren gering, das Wissen um die Erkrankungsmechanismen ebenfalls. Wir haben die Ausbildung kurzer Hand zu den Rekruten nach Hause gebracht. Die Präsenzphase, normalerweise zwölf Wochen Ausbildung, konnte halbiert werden.

Die Ausbildungsinhalte wurden in den ersten Versionen mit viel Engagement durch die Ausbilder in eine „digitale Version“ überführt. Dazu konnten wir schon bestehende Kommunikations- und Ausbildungsplattformen, wie z. B. das San-Netz, nutzen. Durch die dort verfügbaren Chat-Funktionen wurde eine unmittelbare Betreuung der Rekrutinnen/Rekruten durch das Ausbildungspersonal bis hin zur Durchführung von Tests/Wissensabfragen ermöglicht. Die Resonanz aller Beteiligten war gut. Multimediale Lernumgebungen sind für viele junge Menschen schon gelebte Realität.

Das Gelernte dann in der Präsenzphase abrufen zu können, führt zu Erfolgserlebnissen. In der Ausbildung werden diese Lernmodelle auch als „Inverted Classroom“ bezeichnet.

Mit den weiteren Durchgängen wurde die Betreuung und das Lernangebot weiter verbessert. Wir konnten so die Präsenzausbildung reduzieren und haben damit auch das Risiko für die neuen Soldatinnen und Soldaten und das Personal in den Ausbildungseinrichtungen minimiert.

Die Infektionszahlen in den Einheiten geben uns dabei recht.

Bei aller Digitalisierung bleibt der Soldatenberuf, die Arbeit im Team und die sanitätsdienstliche Ausbildung jedoch eine zu tiefst praktische Tätigkeit. Mit den Erfahrungen der letzten Monate können wir die Präsenzanteile reduzieren, aber die Gruppe gilt es weiter zu formen, Betreuung und persönlicher Bezug der Ausbilder zu den Rekrutinnen/Rekruten ist gerade auf die Distanz eine wichtige Aufgabe. Digitalisierung spart hier keine Zeit, sondern dient einem erweiterten Zweck.

„Auch zukünftig werden wir im Rahmen der Beschaffung alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen, um das langfristige Ziel der bedarfsgerechten Ausstattung von Fahrzeugen und auch Sanitätseinrichtungen zu erreichen“

wt: Herr Generalarzt, Sie hatten im vergangenen Jahr angemerkt, dass eine personelle und materielle Ausstattung aller Verbände bzw. Einrichtungen vor dem Hintergrund des großen Nachholbedarfs im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung erst mittel- bis langfristig zu erreichen ist. Müssen Sie mit Verzögerungen bei der Bereitstellung von geschützten Fahrzeugen für den Verwundetentransport rechnen?

Dr. Baumgärtner: Die Aussage vom letzten Jahr hat weiter Bestand. Die Ausrichtung auf die Gleichrangigkeit und Gleichzeitigkeit von IKM und LV/BV wird in materieller und personeller Hinsicht noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Wir müssen festhalten, dass die Befähigung zur sanitätsdienstlichen Unterstützung von Großverbänden im Rahmen LV/BV nicht automatisch mit der Befähigung für andere Aufgaben gleichgesetzt werden kann. Die zu erbringenden Gesamtleistungen sind viel differenzierter und komplexer. Sich in der Gesundheitsversorgung nur an klassischer LV/BV auszurichten birgt eine Gefahr. Für den SanDstBw kann ich sagen: Wir können mehr und wir müssen auch mehr können, damit Streitkräfte als Instrument der Politik flexibel bleiben. Fähigkeiten sind dabei nicht einfach nur öfter, sondern auch sehr verschieden auszubringen.

Für nahezu alle Einsatzoptionen ist der bodengebundene Verwundetentransport unverzichtbarer Bestandteil der Rettungskette. Dies gilt gleichermaßen für den ungeschützten wie auch für den geschützten Verwundetentransport. Wenn wir über die Bereitstellung von geschützten Fahrzeugen für den Verwundetentransport sprechen, so stehen derzeit insbesondere zwei Fahrzeuge mit hoher Dringlichkeit im Fokus der Beschaffung. Zum einen handelt es sich um das mittlere geschützte Sanitätskraftfahrzeug (mgSanKfz) zum anderen um die Ergänzungsbeschaffung des schweren geschützten Sanitätskraftfahrzeuges des Typs Boxer (sgSanKfz Boxer).

Mit dem mgSanKfz werden wir die Lücke zwischen dem leicht geschützten Sanitätskraftfahrzeug (lgSanKfz) und dem sgSanKfz zum Teil mittelfristig schließen können. Der Vertrag zur Lieferung von 80 Fahrzeugen wurde mit der Industrie im letzten Jahr erfolgreich abgeschlossen. Mit der Auslieferung der ersten Fahrzeuge an die Truppe kann nunmehr ab 2022 gerechnet werden und damit sehen wir deutlich Licht am Ende des Tunnels. Zugegeben, der bisher verzögerte Zulauf des mgSanKfz wird sich besonders auf die Bereitstellung für VJTF 2023 auswirken, sodass ggf. der Rückgriff auf Substitute in Betracht zu ziehen ist.

Die Gründe für die Verzögerung sind vielschichtig, es bleibt jedoch festzustellen, dass wir uns derzeit hinsichtlich der Realisierung wieder im Rahmen der vorgegebenen Zeitkorridore bewegen. Die prognostizierte Auslieferung der Fahrzeuge kann deshalb zum jetzigen Zeitpunkt als belastbar bewertet werden. Dafür bin ich den Planern sehr dankbar.

Der von Ihnen angesprochene Nachholbedarf im Rahmen LV/BV erfordert jedoch derzeit eine strukturelle Vollausstattung, die weit über die in Rede stehenden Fahrzeuganzahl hinausgeht. Der Abschluss der Beschaffung des Gesamtbedarfs an mgSanKfz ist derzeit noch nicht absehbar und wird tatsächlich erst langfristig zu erreichen sein.

Mit Blick auf die Ausstattung des sgSanKfz Boxer haben wir mit den bisherigen Zuläufen von 72 sgSanKfz Boxer immer noch eine signifikante Unterdeckung. Daher wiegt jeder Zeitverzug beim Zulauf der Fahrzeuge, der sich aus finanzplanerischen Hintergründen ableitet, umso schmerzlicher. Die beginnende Bereitstellung ab 2025 kommt somit insbesondere für die Sicherstellung der Einsatzfähigkeit NRF [NATO Response Force] 2026 zu spät und wird sich folglich erst mittelfristig positiv bemerkbar machen.

Auch zukünftig werden wir im Rahmen der Beschaffung alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen, um das langfristige Ziel der bedarfsgerechten Ausstattung von Fahrzeugen und auch Sanitätseinrichtungen zu erreichen.

Gelebte Solidarität: Der Inspekteur des Sanitätsdienstes und der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, vor dem Hilfseinsatz für Portugal Anfang Februar in Wunstorf.

wt: Gibt es eine Roadmap im Sanitätsdienst, entlang derer vor allem die neuen Technologien – wie etwa ein digitales “Comprehensive Military Health Management“ – Einfluss nehmen auf die weitere Fähigkeitsentwicklung des Sanitätsdienstes?

Dr. Baumgärtner: Um den angesprochenen Herausforderungen der Digitalisierung besser begegnen zu können, habe ich im Kdo SanDstBw ein neues Referat aufgestellt. Dieses Referat nähert sich u.a. über die Anwendung der Methode „Architektur“ den sanitätsdienstlichen IT-Projekten, mit denen die Digitalisierung im SanDstBw vorangetrieben werden kann und auch muss. Dabei kann die Visualisierung in Form von Architektur- bzw. Prozessmodellen das Erkennen von notwendigen Fähigkeitsentwicklungen bzw. das strukturierte Weiterentwickeln unserer Fähigkeiten im Sanitätsdienst unterstützen. Digitalisierung umfasst dabei nicht nur die sanitätsdienstliche Versorgung, sondern vielmehr die sanitätsdienstliche Unterstützung mit ihrem Einfluss auch auf militärische Führungs-/Entscheidungsprozesse. Es braucht dabei vor allem eine durchgängige Struktur aus der regionalen Versorgung hinein in den Einsatz, die Bundeswehrkrankenhäuser und zurück zur Rehabilitation.

Die Sicherheit von Daten ist dabei eine wichtige Größe. Der Umgang mit personenbezogenen Daten bedarf einer besonderen Sorgfalt. Patientendaten sind dabei eine besondere Kategorie von personenbezogenen Daten. Dies in Verbindung mit der Tatsache, dass gleichzeitig auch militärisch relevante Informationen mit einfließen können, stellt die IT-Sicherheit vor besondere Herausforderungen. Die Datensicherheit für unsere Patientinnen und Patienten ist ein hohes Gut, das besondere Anforderungen an die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung stellt. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass Digitalisierung und Standardisierung die Patientenversorgung verbessert und die Patientensicherheit erhöht. Dieses Gleichgewicht zu schaffen, ist eine fordernde Aufgabe.

wt: Welchen Stellenwert nimmt die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung der Bundeswehr ein? Mit welchen zusätzlichen Investitionen rechnen Sie insbesondere bei der Ausbildung von geeignetem Personal?

Dr. Baumgärtner: Digitalisierung ist für den Sanitätsdienst der Bundeswehr nie Selbstzweck! Nur mit Hilfe einer umfassenden Digitalisierung zur Unterstützung der Gesundheitsversorgung der Bundeswehr können wir die künftigen Aufgaben im Zusammenspiel mit der kontinuierlich voranschreitenden Digitalisierung im zivilen Gesundheitswesen erfüllen. Die hierfür notwendigen IT-Services sind vor Ort häufig mit den am Markt verfügbaren Produkten vergleichbar. Wir benötigen aber nicht die IT für EINE allgemeinmedizinische Praxis oder EIN Krankenhaus. Wir verbinden fünf Krankenhäuser, über 160 regionale Behandlungseinrichtungen und Rehabilitationsstätten in einem Gesundheitssystemverbund, auch digital. Dieser Verbund ist wiederum mit dem zivilen Gesundheitswesen zu vernetzen.

Die Nutzung von Fähigkeiten anderer Nationen und das Bereitstellen unserer Fähigkeiten oder die Kooperation mit dem zivilen Gesundheitswesen auch bei LV/BV sind im sanitätsdienstlichen Kontext künftig ohne einen entsprechenden Digitalisierungsfortschritt kaum denkbar. Unser Personal muss deutlich mehr als früher auf das Thema Digitalisierung vorbereitet werden. Das breite militärische und zivile Ausbildungsangebot muss genutzt werden, um Wissen im Bereich der Medizinischen Informatik bei möglichst vielen Soldatinnen und Soldaten zu generieren. Die Bedarfe wurden im letzten Jahr erarbeitet, nun gilt es die Umsetzung ins Auge zu fassen.

Deshalb werden wir u.a. einen Verwendungsaufbau im Bereich der Medizinischen Informatik strukturieren, indem wir zusammen mit dem Kommando CIR die Verwendungsaufbaukonzepte ergänzen und ab Mitte 2021 die Realisierung eines Master-Studiengangs Medizinische Informatik an der Universität der Bundeswehr München vorsehen.

„Der ZSanDstBw gilt international als eine feste Größe im militärischen Gesundheitswesen“

wt: Der Weg der multinationalen Zusammenarbeit ist für die kommenden Jahre vorgezeichnet. Welche Aufgaben nimmt das im September 2019 in Koblenz in Dienst gestellte Multinational Medical Coordination Centre/European Medical Command (MMCC/EMC) im Szenario Landes- und Bündnisverteidigung wahr?

Dr. Baumgärtner: Bei allen durch die Bundeswehr zu leistenden Aufgaben richtet sich der Blick natürlich auf die Nato und die EU. Mit zunehmend komplexeren Aufgaben wachsen auch die Herausforderungen für die Stäbe und Kommandostrukturen der Nato und der EU, die diese Aufgaben wahrnehmen müssen. Gerade im Bereich Medical Support haben sich die Kapazitäten und die Positionierung dieser Aufgabe in den Stäben und Kommandobehörden, aber auch die für die Aufgaben erforderlichen Ressourcen nicht im notwendigen Maße weiterentwickelt. Hier erhalten Fähigkeiten, die von einzelnen Mitgliedsstaaten zur Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe zur Verfügung gestellt werden, ihren besonderen Wert. Genau an dieser Stelle setzt das MMCC/EMC und seine mögliche zukünftige Rolle an.

Als Koordinierungselement auf operativer Ebene kann es die Nationen, das Bündnis und die EU angesichts knapper sanitätsdienstlicher Ressourcen auf allen Ebenen wesentlich unterstützen. Hier werden die angestrebten Standardisierungen einen wichtigen Beitrag leisten. Der ZSanDstBw gilt international als eine feste Größe im militärischen Gesundheitswesen. Nicht zuletzt sind wir als starker Partner die Anlehnnation im Framework Nation Concept. Schwerpunkte der aktuellen Arbeiten liegen im Bereich der Krisen- und Konfliktfälle, hier bei der Koordination der strategischen, supranationalen Verwundeten- und Krankentransporte. Der Aufbau dieser Fähigkeit ist eines der wesentlichen Felder der Weiterentwicklung des MMCC/EMC.

wt: Das Projekt i-MERZ hatte im Jahr vor der Pandemie deutlich an Fahrt aufgenommen. Für Mitte 2020 sollte die Integration des i-MERZ auf dem EGV FRANKFURT AM MAIN abgeschlossen und im Herbst eine Übung mit dem containerisierten Rettungszentrum See durchgeführt werden. Diese wichtigen Meilensteine konnten offensichtlich nicht erreicht werden. Wie lauten die Planungen für die nahe Zukunft?

Dr. Baumgärtner: Das Marine-Einsatz-Rettungszentrum auf den Einsatzgruppenversorgern (EGV) – kurz MERZ – stellt mit seinen umfänglichen chirurgischen und intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten (u.a. zwei Operationsräume, Labor, Zahnarztstation) das zentrale Bindeglied in der medizinischen Rettungskette von der Erstversorgung zur klinischen Behandlung auf See dar.

Auf dem EGV FRANKFURT AM MAIN wurde, auf Basis langjähriger Einsatzerfahrungen, eine neue Lösung, das i-MERZ („i“ für integriert), entwickelt. Mit der Aufhebung der räumlichen Einschränkungen durch die Containerrasterung wird eine auf die medizinischen Behandlungsabläufe optimierte Raumaufteilung ermöglicht und realisiert. Die feste Anbindung des i-MERZ an das EGV-Deckshaus ermöglicht zudem einen vollkommen geschützten Patiententransport vom Hubschrauberhangar bis in das i-MERZ sowie erstmalig eine direkte, auch unter ABC-Schutz mögliche, Verlegung auf die im Schiffsinneren befindliche Bettenstation. Die Herausforderung besteht darin, eine neue Idee und eine neue Struktur in ein schon bestehendes Schiff zu integrieren. Die Verzögerungen beruhen auf genau dieser Herausforderung. Wir sind jedoch mittlerweile in der Detailausplanung und machen gute Fortschritte. Es ist geplant die Integration des i-MERZ auf dem EGV FRANKFURT AM MAIN Anfang 2022 abzuschließen. Was uns in diesem Projekt wichtige Zeit gekostet hat, wird unser Erfahrungsschatz für die nächsten Projekte sein.

Nach dem Gespräch und Ihren Fragen kann ich abschließend feststellen, dass der SanDstBw in den letzten zwei Jahren an den Herausforderungen gewachsen ist. Wir wissen sehr gut, was wir können, wie leistungsstark wir als medizinische Experten sind. Unsere Einsatzbereitschaft und unsere Leistungsfähigkeit in der aktuellen Gesundheitslage stärkt unser Selbstbewusstsein als militärischer Organisationsbereich und zeigt einerseits unsere Limitierungen auf andererseits, wie wichtig fachliche Führung aus einer Hand ist. Unsere ressortgemeinsamen Lösungsansätze ermöglichen es dem SanDstBw flexibel als Instrument der Politik im Inland und Ausland eingesetzt zu werden. Indem wir uns auf viele Szenarien vorbereiten, folgen wir dennoch dabei der Logik der Wahrscheinlichkeit.

wt: Vielen Dank, Herr Generalarzt, für die Antworten.

Interview: Stefan Nitschke

Fotos: Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr; Bundeswehr/Jane Schmidt/Tom Twardy

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